Wohin gehen die Gewerkschaften?
Zwischen Sozialpartnerschaft, Kriegspolitik und klassenbewusster Erneuerung
Die deutsche Gewerkschaftsbewegung steht im Jahr 2025 an einem historischen Scheideweg. Schon mehrfach in der Geschichte war sie mit grundlegenden Richtungsentscheidungen konfrontiert: 1914 beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als die Gewerkschaftsführung den Kriegskrediten zustimmte – ein Akt, der von Karl Liebknecht scharf als Verrat an der Arbeiterklasse kritisiert wurde. 1918 hingegen organisierten revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte den Aufstand gegen die Monarchie und legten die Grundlage für einen grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch. 1945 stand der Wiederaufbau unter antifaschistischen Vorzeichen, wobei Gewerkschaften eine zentrale Rolle beim Aufbau demokratischer Strukturen spielten. In den 1970er Jahren schließlich bewiesen sie durch breite Streikbewegungen ihre gesellschaftliche Macht und erkämpften reale Verbesserungen für Millionen Beschäftigte.
Heute, inmitten von Aufrüstung, Sozialabbau und repressiver Politik, steht sie erneut vor der Wahl: Kapitulation oder Konfrontation? Angesichts wachsender Repression und verschärfter Angriffe auf Arbeitszeit und Streikrecht stellt sich die Frage: Wohin gehen die Gewerkschaften? Kehren sie zurück zu ihren Wurzeln als klassenkämpferische Organisationen? Oder verbleiben sie im Korsett einer sozialpartnerschaftlichen Politik, die der Logik des Kapitals folgt?
Die Entscheidung über den künftigen Kurs der Gewerkschaften fällt nicht nur in den Vorstandsetagen, sondern vor allem an der Basis, in den Betrieben, auf der Straße und in den Konflikten um Tarifverträge, Streikrechte und politische Mitsprache. In einer Zeit, in der das Kapital international agiert, Konzerne Regierungen dominieren und demokratische Rechte ausgehöhlt werden, können sich Gewerkschaften nicht länger auf nationale Kompromisse und symbolische Forderungen beschränken. Die Stunde verlangt nach einem klaren Bekenntnis zur Klasseninteressenvertretung.
Sozialpartnerschaft oder Klassenkampf?
Seit Jahrzehnten sind die großen Gewerkschaftsverbände wie der DGB, Verdi oder die IG Metall in das System der "Sozialpartnerschaft" eingebunden. Diese Partnerschaft wurde lange als Errungenschaft gepriesen, als Möglichkeit, zwischen Kapital und Arbeit zu vermitteln. Doch diese vermeintliche Gleichberechtigung existiert nicht mehr. In der aktuellen Phase kapitalistischer Krise zeigt sich ihr wahres Gesicht: Sie dient der Disziplinierung der Arbeiterklasse und der Absicherung neoliberaler Krisenbewältigung.
Ein Beispiel dafür ist die Zustimmung der Gewerkschaft Verdi zur Verlängerung der Wochenarbeitszeit im öffentlichen Dienst in mehreren Bundesländern – ein klarer Rückschritt hinter gewerkschaftliche Errungenschaften wie den Achtstundentag. Ebenso kritisch ist das Schweigen oder gar die Unterstützung vieler Gewerkschaftsspitzen für Rüstungsprogramme und NATO-konforme Sicherheitspolitik. Solche Entscheidungen zeigen, wie tief die Apparate in die Systemlogik eingebunden sind.
Die Zustimmung zu Kriegshaushalten, die Unterstützung für Rüstungsprojekte und die Passivität gegenüber dem Abbau demokratischer Rechte machen deutlich: Die Spitzen der Apparate stehen nicht mehr auf Seiten der arbeitenden Menschen. Sie haben sich auf eine Rolle als Ordnungsfaktor und Vermittler im Sinne der herrschenden Politik reduziert. Gewerkschaften, die ihre historische Rolle aufgeben, verlieren ihre gesellschaftliche Relevanz. Statt die Interessen der abhängig Beschäftigten zu vertreten, stabilisieren sie ein System, das von Konkurrenz, Ausbeutung und Zerstörung lebt.
Die Friedensfrage ist Klassenfrage
Statt klar Stellung zu beziehen gegen Waffenexporte, NATO-Aufrüstung und Kriegspolitik, zeigen viele Gewerkschaftsführungen eine auffällige Zurückhaltung. Manche rechtfertigen gar Rüstungsausgaben mit dem Argument der "Standortsicherung". In einem fatalen Schulterschluss mit dem militärisch-industriellen Komplex wird die Forderung nach Frieden geopfert.
Ein besonders bezeichnendes Beispiel ist die Partnerschaft mit dem israelischen Gewerkschaftsbund Histadrut, der historisch an der Kolonisierung Palästinas beteiligt war. Ebenso problematisch war die Unterstützung deutscher Gewerkschaftsverbände für die sogenannte »Zeitenwende« der Bundesregierung, bei der mit Zustimmung aus Teilen der Gewerkschaftsspitzen ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr beschlossen wurde. Diese Verbindung ist Ausdruck einer tiefgreifenden politischen Entfremdung von internationaler Solidarität. Während internationale Gewerkschaften sich mit der palästinensischen Sache solidarisieren, herrscht hierzulande Schweigen oder gar offene Unterdrückung solcher Positionen.
Diese Haltung hat nicht nur moralische, sondern auch politische Konsequenzen: Friedenspolitik ist immer auch Klassenpolitik. Schon in den 1980er Jahren engagierten sich breite Teile der Gewerkschaften – insbesondere die IG Metall – aktiv in der westdeutschen Friedensbewegung gegen die Stationierung neuer Atomraketen. Damals wurde erkannt: Ohne Frieden keine soziale Gerechtigkeit. Wer den Krieg nach außen unterstützt, unterstützt auch den Krieg nach innen – gegen Löhne, gegen demokratische Rechte, gegen soziale Sicherheit. Der Schulterschluss mit Aufrüstung und Militarismus bedeutet unweigerlich eine Entsolidarisierung mit der eigenen Basis. Wer heute den Krieg verteidigt, wird morgen den sozialen Frieden aufkündigen.
Hoffnung an der Basis
Doch es gibt auch Gegenbewegung: Die Konferenz "Gewerkschaftliche Erneuerung" bringt Aktive zusammen, die nicht länger bereit sind, den Burgfrieden mit dem Kapital mitzutragen. Sie setzen auf Organizing, direkte Beteiligung, Kampf um gute Arbeit, Tarifmacht – und auf Friedenspolitik. Aktionen gegen Rüstung, Verweigerung von Waffenverladung, kritische Positionen gegen Militarisierung nehmen zu. In Häfen, im Nahverkehr, in sozialen Diensten regt sich Widerstand gegen die Instrumentalisierung der Gewerkschaften durch staats- und rüstungsnahe Interessen.
In vielen Betrieben entstehen basisorientierte Netzwerke, die sich für eine demokratischere und kampfstärkere Gewerkschaft einsetzen. Sie fordern die Einbeziehung aller Mitglieder in tarifliche und politische Entscheidungen, die Rückkehr zu klassenbewusster Analyse und die klare Ablehnung jeder Form von Sozialabbau und Kriegspolitik. Die Energie dieser Basisgruppen könnte zur Grundlage einer neuen gewerkschaftlichen Bewegung werden, die sich wieder dem Ziel der sozialen Befreiung verschreibt. Die Zukunft der Gewerkschaften entscheidet sich an der Basis – im Kampf um Rechte, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Alternative.
Streik als Mittel der Erneuerung
Streiks sind das mächtigste Mittel der Gewerkschaften – nicht nur für Lohnerhöhungen, sondern auch für gesellschaftliche Veränderung. Der politische Streik, lange aus dem Bewusstsein verdrängt, kehrt zurück. In anderen Ländern Europas werden bereits Waffenlieferungen blockiert, militärische Transporte bestreikt und soziale Infrastruktur durch Arbeitsniederlegungen verteidigt. In Frankreich etwa legten im Jahr 2023 Hunderttausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes die Arbeit nieder, um gegen Rentenreformen und die Aufrüstungspolitik der Regierung zu protestieren – ein machtvolles Zeichen gegen den neoliberalen Umbau des Sozialstaats.
In Deutschland hingegen herrscht hier noch große Zurückhaltung. Doch das Bewusstsein wächst: Wo die Führungen zögern, muss die Basis handeln – gegen Arbeitszeitverlängerung, gegen Privatisierung, gegen Krieg und Repression. Politischer Streik ist kein Tabu, sondern ein demokratisches Recht, auch wenn er in Deutschland juristisch umstritten ist. Zwar erlaubt das Grundgesetz in Artikel 9 Absatz 3 die Koalitionsfreiheit, doch die herrschende Rechtsprechung beschränkt das Streikrecht auf tariflich orientierte Arbeitskämpfe. Dennoch ist es politisch notwendig und legitim, das Mittel des politischen Streiks einzufordern, zu verteidigen und praktisch anzuwenden.
Nur durch aktive Beteiligung und Widerstand kann die Gewerkschaftsbewegung ihre historische Kraft wieder entfalten. In einer Zeit, in der Konzerne aufrüsten, Klimakatastrophen eskalieren und autoritäre Tendenzen zunehmen, ist der organisierte Arbeitskampf ein Bollwerk der Demokratie – wenn er konsequent geführt wird.
Eine historische Aufgabe
Die Frage, wohin die Gewerkschaften gehen, ist keine theoretische. Sie entscheidet über die Zukunft der sozialen Bewegung. Entweder sie bleiben Apparate der Integration – oder sie werden wieder zu Organisationen des Klassenkampfs.
Die Geschichte kennt Beispiele für beides: für die Kapitulation vor der Staatsmacht wie 1914, als der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) und die SPD-geführten Gewerkschaften den Ersten Weltkrieg durch ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten mittrugen. Ebenso zeigten sich 1918 revolutionäre Potentiale, als Arbeiter- und Soldatenräte in ganz Deutschland den Sturz der Monarchie vorantrieben. Auch 1945 und in den Streiks der 1970er Jahre wurde spürbar, welches gesellschaftliche Gewicht eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung entfalten kann.
Heute ist erneut ein Moment der Entscheidung. Die Gesellschaft steht vor der Alternative: Militarisierung oder soziale Transformation. Ausbeutung oder Selbstermächtigung. Nationalismus oder Internationalismus. Es ist an den Gewerkschaften, sich zu entscheiden. Die Frage lautet nicht mehr, ob sie sich einmischen sollen – sondern auf wessen Seite sie stehen.
Konkrete Schritte können nicht länger aufgeschoben werden: Aufbau betrieblicher Antikriegsstrukturen, klare Ablehnung der Beteiligung an Rüstungsprojekten, Solidarität mit internationalen Bewegungen gegen Krieg und Ausbeutung sowie die Mobilisierung für politische Streiks. Gewerkschaften müssen wieder Bildungsarbeit zur politischen Ökonomie leisten, Betriebsgruppen unterstützen, die sich gegen Militarisierung wehren, und den Schulterschluss mit sozialen Bewegungen wie der Friedensbewegung oder Klimabewegung suchen.
Der Aufbruch beginnt an der Basis – organisiert, solidarisch, entschlossen.
Es ist Zeit, sich zu entscheiden: Klassenverrat oder Klassenkampf. Der Weg in die Zukunft führt nur über den Bruch mit Krieg, Kapital und Konzernmacht. Die Gewerkschaften müssen wieder Werkzeuge der Arbeiterklasse werden – internationalistisch, solidarisch, unbestechlich.