Inge Müller
Unbeugsam, standhaft und solidarisch
Unbeugsam, standhaft und solidarisch
Inge Müller (geb. 1928) wurde in Hannover als Tochter einer kommunistischen Familie geboren und prägte als mutige Widerstandskämpferin und engagierte Kommunistin die Geschichte der Stadt. Bereits in jungen Jahren wurde sie mit politischem Unrecht konfrontiert. Als Kind musste sie miterleben, wie ihr Vater von der Gestapo verhaftet wurde – ein Ereignis, das sich tief in ihr Gedächtnis einbrannte. Die Angst in den Augen der Mutter, das plötzliche Verschwinden des Vaters, die durchsuchte Wohnung und das anschließende Schweigen der Nachbarn prägten ihre ersten bewussten Eindrücke vom Unrecht des faschistischen Regimes. Das politische Engagement ihres Vaters und die brutale Unterdrückung der Arbeiterbewegung durch die Nationalsozialisten prägten ihre frühe Weltsicht. Die Atmosphäre der Angst, die durch die Gestapo und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit entstand, hinterließ bei ihr bleibende Eindrücke.
Nach dem Krieg war es Inge Müller ein inneres Bedürfnis, sich aktiv am Aufbau einer friedlicheren, gerechteren Gesellschaft zu beteiligen. Für sie war Antifaschismus keine abstrakte Haltung, sondern gelebte Verantwortung. Ihre Erfahrungen als junge Frau in der Trümmerzeit – jener Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Städte zerstört und Lebensgrundlagen vernichtet waren – geprägt von Mangel, Entwurzelung und politischem Neubeginn, festigten ihren Wunsch nach einem solidarischen Gemeinwesen.
Sie verstand es, politische Arbeit mit persönlichem Mut zu verbinden. So weigerte sie sich in den 1950er-Jahren, trotz behördlicher Drohungen, ihre Mitgliedschaft in der KPD zu verschweigen oder sich öffentlich davon zu distanzieren. Sie trat auch in Diskussionen gegen antikommunistische Stimmungsmache mit klarem Wort auf, selbst wenn sie dadurch persönliche Nachteile befürchten musste. In der Auseinandersetzung mit alten und neuen Formen der Unterdrückung blieb sie stets eine entschiedene Stimme der Vernunft und Menschlichkeit. Ihr Name steht für einen lebenslangen Kampf gegen Faschismus und Ungerechtigkeit. Sie widerstand der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und kämpfte später unermüdlich für demokratische Rechte in der Nachkriegszeit. Ihre politische Klarheit, ihr Durchhaltevermögen und ihre tiefe Solidarität machten sie zu einer Symbolfigur des Widerstandes und der Hoffnung. Wie ein Weggefährte einmal sagte: "Inge war das Gewissen unserer Bewegung – klar, unbeirrbar und voller Mitgefühl."
Kindheit und Jugend im antifaschistischen Umfeld
Inge Müller wuchs in den 1930er-Jahren in Hannover auf. Ihr Elternhaus war politisch geprägt: Ihr Vater, Walter Bitterlich, war Kommunist und wurde von den Nationalsozialisten verschleppt. Er galt jahrzehntelang als verschollen; erst nach 1980 erfuhr die Familie von seiner Ermordung im Konzentrationslager Buchenwald. Diese Tragödie und die Erfahrungen der faschistischen Zeit prägten Inge Müller tief. Noch als Jugendliche erlebte sie das Kriegsende 1945 in einer Stadt, die von Verfolgung, Bombardierung und Hunger gezeichnet war. Sie sah, wie Nachbarn und Mitschülerinnen verschwanden, wie Häuser zerbombt wurden und Menschen in den Kellern ums Überleben kämpften.
Bereits als junges Mädchen war sie mit der Angst um ihren Vater konfrontiert. Die wiederholten Hausdurchsuchungen der Gestapo, das Schweigen der Behörden und die Gerüchte über Deportationen verstärkten bei ihr das Gefühl der Ohnmacht – doch zugleich auch den Wunsch, etwas zu tun. Die andauernde staatliche Repression gegen Kommunistinnen und Kommunisten sowie die systematische Verfolgung politisch Andersdenkender machten deutlich, dass politische Haltung in diesen Zeiten ein gefährlicher Weg war.
Doch anstatt sich zu fügen, formte sich bei Inge ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl. Die Gespräche mit ihrer Mutter, die Lektüre verbotener Literatur und die heimliche Weitergabe von Flugblättern stärkten ihren Willen, sich nicht mit der Ungerechtigkeit abzufinden. Sie lernte früh, zwischen dem Offiziellen und dem Wirklichen zu unterscheiden, zwischen Propaganda und Menschlichkeit. Die Erinnerung an den im Widerstand ermordeten Vater wurde zur treibenden Kraft für ihr eigenes politisches Engagement. Sie wollte, dass sein Opfer nicht vergessen, sondern in ihrem Tun fortgeführt wurde. Diese Haltung, einmal eingenommen, sollte sie ein Leben lang nicht mehr verlassen.
Engagement in der Nachkriegszeit
Mit dem Ende der faschistischen Diktatur schloss sich Inge Müller der neugegründeten Freien Deutschen Jugend (FDJ) an. Die FDJ war nicht nur eine Jugendorganisation, sondern verstand sich als politische Bewegung im Geiste des Antifaschismus und der sozialistischen Erneuerung – insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren war sie für viele junge Menschen ein Hoffnungsträger für ein neues, friedliches Deutschland. Bald darauf trat sie der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei, wo sie sich aktiv am Aufbau von Parteistrukturen beteiligte, Flugblätter verteilte, Veranstaltungen organisierte und regelmäßig an politischen Schulungen teilnahm, der traditionsreichen Arbeiterpartei, die 1945 in der Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang wieder zugelassen wurde.
„In der antifaschistischen Arbeit, beim Aufbau der Freien Deutschen Jugend und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) lernte sie ihren späteren Ehemann Werner Müller kennen. Mit dem KPD-Verbot wurden sie und ihre Familie erneut Ziel antikommunistischer Willkürjustiz“, heißt es in einem Bericht der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN).
Tatsächlich schlug die staatliche Repression in der frühen Bundesrepublik bald zu: 1956 wurde die KPD in Westdeutschland verboten, was für viele ihrer Mitglieder berufliche Nachteile, Überwachung und Verfolgung bedeutete. Inge Müller geriet ins Visier der Behörden. 1964 verhängte ein westdeutsches Gericht – die politische Sonderstrafkammer in Lüneburg – gegen die damals 36-jährige Inge Müller wegen ihres Engagements für die inzwischen verbotene KPD eine Gefängnisstrafe von neun Monaten. Das Urteil galt als exemplarisch für die politische Justiz der Adenauer-Ära, die linkes Engagement systematisch kriminalisierte. In progressiven Kreisen und unter ihren Genossinnen und Genossen sorgte das Verfahren für Empörung. Es wurde als Versuch gewertet, den antifaschistischen Widerstand nachträglich zu delegitimieren und politisch aktive Frauen mundtot zu machen.
Trotz intensiver Verhöre, langwieriger Gerichtsprozesse und drohender Haft blieb sie unbeugsam. „Alle Versuche der Einschüchterung blieben vergebens“, erinnerten sich später ihre Mitstreiter. Die ideologische Feindlichkeit, mit der Kommunistinnen in der Bundesrepublik behandelt wurden, stärkte ihren Entschluss, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Treue zur Sache trotz Verfolgung
Auch nach dem Verbot der KPD setzte Inge Müller ihren Kampf für Gerechtigkeit unbeirrt fort. Sie engagierte sich in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), einer überparteilichen Organisation ehemaliger Widerstandskämpferinnen und -kämpfer. Dort setzte sie sich besonders für die Wiedergutmachung und Entschädigung der von den Nazis verfolgten Antifaschistinnen und Antifaschisten ein.
Sie organisierte Gedenkveranstaltungen, recherchierte Biografien verfolgter Kommunisten und brachte ihre Erfahrungen in Schulen und Jugendgruppen ein. Mit großer Leidenschaft beteiligte sie sich an Diskussionsrunden, schrieb Beiträge für lokale Zeitungen und unterstützte juristische Initiativen zur Rehabilitierung politisch Verfolgter. Sie war der festen Überzeugung, dass antifaschistische Bildung nie enden dürfe. Besonders am Herzen lagen ihr die Gespräche mit jungen Menschen, denen sie das Unrecht der Vergangenheit und die Notwendigkeit von Widerstand in jeder Gesellschaft näherbringen wollte. Sie sagte einmal sinngemäß, wer nicht aus der Geschichte lerne, wiederhole deren schlimmste Seiten – und sie tat alles, um diese Lektion weiterzugeben.
Oft wurde sie zu Veranstaltungen eingeladen, um als Zeitzeugin über ihre Erlebnisse und ihren politischen Weg zu berichten. Dabei sprach sie nicht nur über das Leid, sondern auch über die Kraft des kollektiven Widerstands und die Bedeutung des politischen Engagements im Alltag. Ihre Begegnungen mit jungen Menschen erfüllten sie mit Hoffnung, dass die Idee des Antifaschismus lebendig bleiben könne.
1968, nach einer Phase der Illegalität, entstand in der Bundesrepublik eine neue linke Partei – die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) – als Nachfolgerin der verbotenen KPD. Inge und Werner Müller gehörten von Anfang an dazu: Seit 1968 waren sie neben ihrer VVN-Arbeit auch in der DKP aktiv. Dort setzte sie sich für Abrüstung, internationale Solidarität und soziale Rechte ein. Besonders engagierte sie sich in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre, die gegen die Stationierung von Atomraketen protestierte. Sie war auf Kundgebungen, organisierte Flugblattaktionen und sprach bei Veranstaltungen.
Sie protestierte gegen Notstandsgesetze, gegen die Notwendigkeit der Wiederbewaffnung und warnte mit eindringlichen Worten vor dem wachsenden Einfluss alter Nazis in westdeutschen Staatsapparaten. Für sie war der Faschismus keine vergangene Episode, sondern eine Gefahr, die immer wieder aufkeimen könne – besonders dann, wenn soziale Ungleichheit, nationalistisches Denken und staatliche Repression wieder Raum gewinnen. Inge Müllers politisches Engagement blieb bis ins hohe Alter ungebrochen – getragen von dem tiefen Glauben an eine gerechtere, friedlichere Welt.
Zeitzeugin bis ins hohe Alter
Selbst im fortgeschrittenen Alter blieb die Hannoveranerin eine unbeirrbare Stimme des antifaschistischen Widerstands. Solange es ihre Gesundheit erlaubte, wirkte sie in Initiativen mit, die sich für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges einsetzten – also jener Menschen, die in der Bundesrepublik aufgrund ihrer Gesinnung verfolgt wurden. Dabei war sie nicht nur Mitwirkende, sondern oft auch die treibende Kraft hinter Veranstaltungen, Anträgen und Aufklärungsarbeit. Ihr Engagement war geprägt von einer tiefen moralischen Überzeugung, dass Unrecht benannt und aufgearbeitet werden müsse, ganz gleich wie viele Jahre es zurücklag.
Sie war Ansprechpartnerin für ehemalige KPD-Mitglieder, die noch Jahrzehnte nach ihrer Inhaftierung oder Bespitzelung auf Entschuldigung oder wenigstens Anerkennung hofften. Mit vielen stand sie in persönlichem Austausch, half bei Anträgen auf Rehabilitierung, vermittelte Kontakte zu solidarischen Juristinnen und sammelte Dokumente für politische Nachweise. Ihre Wohnung glich über die Jahre hinweg einem Archiv der Erinnerung, gefüllt mit Briefwechseln, Artikeln und historischen Materialien, die sie unermüdlich sichtete und ordnete.
In Gesprächskreisen und Gedenkstunden ließ sie die Geschichte der linken Bewegung in Westdeutschland lebendig werden. Besonders bewegend waren ihre Berichte über die ersten Nachkriegsjahre, über die Kämpfe der KPD, über Streiks, Demonstrationen und persönliche Schicksale. Dabei verband sie historische Präzision mit einer klaren, unverschnörkelten Sprache, die ihre Zuhörerinnen und Zuhörer unmittelbar erreichte. Auch internationale Gäste schätzten ihre Arbeit und baten sie um Beiträge zu Konferenzen oder für Zeitschriften der Friedensbewegung.
Ihr Lebensweg – vom Mädchen unter dem Hakenkreuz bis zur streitbaren Genossin der Nachkriegszeit – spiegelt beispielhaft die Brüche und Kontinuitäten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. Inge Müller war keine, die sich in den Vordergrund drängte, aber eine, ohne die viele antifaschistische und kommunistische Initiativen in Hannover nicht dieselbe Tiefe und Beständigkeit gehabt hätten.
Ein bleibendes Vermächtnis
Inge Müllers Wirken ist heute fester Bestandteil der Erinnerungskultur in Hannover. Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter würdigen sie als eine der standhaftesten kommunistischen Widerstandskämpferinnen der Stadt. Im Kreis der VVN wurde sie liebevoll „unser Archiv“ genannt, weil sie ein lebendes Gedächtnis des Widerstands war. Mit großem Detailwissen berichtete sie den Jüngeren von den Schicksalen ihrer einstigen Kampfgefährtinnen und -gefährten und hielt so die Erinnerung an die antifaschistische Bewegung wach.
Zahlreiche Dokumente und Veröffentlichungen zeugen von Müllers Lebensleistung. So berichtete die DDR-Zeitung Neues Deutschland bereits 1964 über ihren Prozess, und noch Jahrzehnte später würdigte die VVN-BdA in Nachrufen ihren unermüdlichen Einsatz. Es ist auch ihrem Wirken zu verdanken, dass heute in Hannover Namen von Verfolgten der faschistischen Zeit wieder bekannt sind, dass Biografien rekonstruiert und Gedenkorte gepflegt werden. In vielen Gesprächen erinnerte sie an jene, die nicht überlebt hatten, und verlieh ihnen eine Stimme.
Inge Müller starb 2009 im Alter von 81 Jahren, doch ihr Vermächtnis lebt fort. Ihr Name steht für Mut, Beharrlichkeit und den ungebrochenen Willen zum Widerstand – auch jenseits der Faschismus-Zeit. In Hannover erinnern heute Publikationen, Gedenkartikel und Zeitzeugengespräche an ihr Leben im Dienst der Freiheit. Die Geschichte von Inge Müller mahnt uns, die Ideale der Antifaschistin nicht zu vergessen und ihre Stimme auch in der Gegenwart gegen Unrecht zu erheben.
Anhang: Quellen und Literatur
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA): Nachruf auf Inge Müller, 2009.
Neues Deutschland, Ausgabe vom 28. Juni 1964: Bericht zum Prozess gegen Inge Müller vor der Sonderstrafkammer in Lüneburg.
Interviewprotokolle mit Zeitzeuginnen aus dem Kreis Hannover, Archiv der VVN-BdA Niedersachsen.
Müller, Werner (Hrsg.): Widerstand in Hannover – Erinnerungen an eine unbeugsame Generation, Selbstverlag, 1995.
Dokumentation „Antikommunismus in der Adenauer-Ära“, Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 2008.
Persönliche Aufzeichnungen und Briefwechsel von Inge Müller (Privatarchiv, Auszüge im Besitz der VVN-BdA Hannover).