Kein Einzelfall: Die blutige Bilanz der deutschen Polizei
275 Tote seit 1990. 22 erschossene Menschen allein im Jahr 2024. Tausende Demonstrierende auf den Straßen. Und eine Polizei, die sich hinter dem Wort "Notwehr" verschanzt. Was als Einzelfall verkauft wird, ist Teil eines Systems. Ein System, das tötet – nicht zufällig, sondern absichtsvoll. Eine Ordnung, die sich selbst schützt – mit Uniform, mit Akten, mit Schweigen. Ein System, das bekämpft werden muss. Ein System, das keinen Schutz bietet, sondern Kontrolle ausübt. Das Opfer schafft, keine Sicherheit. Das Angst erzeugt – nicht Gerechtigkeit.
Chronik der staatlichen Gewalt
Die Seite doku.deathincustody.info listet systematisch Todesfälle auf, die sich in Polizeigewahrsam, Haft oder bei Polizeieinsätzen ereigneten. Seit 1990 sind es laut doku.deathincustody.info insgesamt 275 dokumentierte Todesfälle (Stand: April 2025). Eine Zahl, die für sich spricht – und doch nur ein Teil der Realität ist. Denn die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Immer wieder gibt es Fälle, die nie dokumentiert, wie etwa der Tod von Achidi John 2001 in Hamburg, der nach einer polizeilichen Zwangsvergabe von Brechmitteln starb, nie medial aufgearbeitet oder juristisch verfolgt wurden. Die überwiegende Mehrheit der dokumentierten Fälle betrifft junge, arme, rassifizierte Menschen. Oft Geflüchtete. Oft Menschen, die obdachlos waren oder unter psychischen Ausnahmesituationen litten. Meist unbewaffnet, häufig isoliert, oft in Ausnahmesituationen, am Rand der Gesellschaft. Immer ohne Chance. Und noch öfter ohne Gerechtigkeit – wie im Fall von Qosay Khalaf, der 2021 nach einem Polizeieinsatz in Delmenhorst starb, ohne dass die beteiligten Beamten je vor Gericht standen. Genauso wie im Fall von Christy Schwundeck, die 2011 in Frankfurt von der Polizei erschossen wurde, nachdem sie sich in einem Jobcenter gegen Demütigung wehrte. Kaum ein Fall endet mit einer Anklage, geschweige denn mit einer Verurteilung. Die Polizei schreibt ihre eigene Geschichte, die Justiz folgt – so etwa im Fall von Oury Jalloh, bei dem selbst das Oberlandesgericht Naumburg 2014 entschied, dass es keine ausreichenden Hinweise auf Fremdverschulden gebe, obwohl zahlreiche Gutachten das Gegenteil nahelegten. Die strukturelle Gewalt ist fest verankert – in den Behörden, in den Abläufen, in den Köpfen. Es geht nicht um Fehlverhalten Einzelner, sondern um einen strukturellen Kern staatlicher Gewalt, der sich durch Jahrzehnte zieht und in einer erschreckenden Kontinuität von Todesfällen sichtbar wird – wie die folgende Liste erschütternd zeigt, sondern um ein System, das bestimmte Menschen systematisch entwertet – bis hin zum Tod.
Namen, die wir nie vergessen werden
Philipp Müller (1952, erschossen bei einer Friedensdemo in Essen)
Achmed B. (1969, München, in Polizeigewahrsam verstorben)
Klaus-Jürgen Rattay (1981, West-Berlin, bei Hausbesetzungsdemo von BVG-Bus überrollt)
Cemal Kemal Altun (1983, Berlin, sprang aus Angst vor Abschiebung vor Gericht aus dem Fenster)
Oury Jalloh (2005, Dessau, verbrannt in Polizeizelle)
Laye Condé (2005, Bremen, nach Brechmitteleinsatz gestorben)
Christy Schwundeck (2011, Frankfurt)
Hussam Fadl (2016, Berlin, erschossen vor den Augen seiner Kinder)
Achidi John (2001, Hamburg, starb nach Brechmitteleinsatz)
Aman Alizada (2019, Stade, fünf Kugeln)
Kamal Ibrahim (2021, Stade)
Qosay Khalaf (2021, Delmenhorst)
Mouhamed Lamine Dramé (2022, Dortmund, 16 Jahre)
Rooble Warsame (Jahr nicht dokumentiert)
Lamin Touray (2024, Nienburg)
Lorenz A. (2025, Oldenburg)
Frau, 31 (2024, München)
Mann, 38 (2024, Grünsfeld)
Mann, 48 (2025, Schramberg)
Mann, 64 (2025, Hilzingen)
Und viele mehr. 275 Mal endet ein Polizeikontakt tödlich. 275 Mal stirbt ein Mensch, ohne dass jemand dafür verurteilt wird. Hinter jeder Zahl steht ein Leben, eine Familie, ein zerstörter Freundeskreis, ein gebrochenes Versprechen. Und immer bleibt das Muster gleich: Die Polizei agiert, tötet – und wird gedeckt.
Die Polizei tötet für die Ordnung der Besitzenden
Die Polizei ist kein neutrales Organ. Sie war es nie. Nicht im Kaiserreich. Nicht im Faschismus. Nicht in der BRD. Sie ist der bewaffnete Arm der Reichen, des Staates, des Kapitals – so etwa beim G7-Gipfel in Hamburg 2017, als ein ganzer Stadtteil zur polizeilichen Kampfzone wurde, oder beim brutalen Vorgehen gegen Streikende und Besetzer:innen von Wohnraum in den 1980er Jahren in Westberlin. Sie schlägt nieder, was sich widersetzt. Sie schießt, wenn Armut sichtbar wird. Sie schießt, wenn Hautfarbe, Herkunft oder Wahnsinn nicht ins System passen. Die Polizei ist keine Hilfe – sie ist Machtinstrument. Sie ist kein Rettungsdienst – sie ist Repressionsapparat.
Der Satz "Die Polizei, dein Freund und Helfer" stammt aus der Zeit des Faschismus – erstmals verwendet 1937 durch das NS-Innenministerium unter Heinrich Himmler, um die Polizei im Sinne der Volksgemeinschaftsideologie propagandistisch aufzuwerten – erstmals verbreitet 1937 als Propagandaparole des NS-Innenministeriums unter Heinrich Himmler, um das Bild einer fürsorglichen, staatstreuen Polizei zu verbreiten. Und das ist kein Zufall. Wie damals soll die Polizei für Ruhe sorgen. Für Ordnung. Für Herrschaft. Nicht für Menschlichkeit. Sie schützt Banken, Konzerne, Eigentum – aber keine Menschen in Not. Wer auf einer Demonstration war, wer Gewalt bei Abschiebungen gesehen hat, weiß: Diese Polizei steht nicht auf unserer Seite.
"Notwehr" ist ein Freibrief zum Töten
In jedem Fall heißt es: Messerangriff. Bedrohung. Täter war aggressiv. Und am Ende: "Die Beamten fühlten sich bedroht". Doch drei Kugeln in den Rücken eines fliehenden jungen Mannes sind keine Verteidigung. Sie sind Hinrichtung. Sie sind Ausdruck einer Kultur, in der das Leben eines Armen, eines Migranten, eines psychisch Erkrankten weniger wert ist als die Unversehrtheit einer Uniform. Es geht nicht um Eskalation, sondern um ein Ritual staatlicher Machtdemonstration, das seit Jahrzehnten einstudiert wirkt.
Einige dieser Fälle sind dokumentiert – viele bleiben es nicht. Die Aussagen ähneln sich frappierend. Oft gibt es keine neutralen Zeug:innen, keine Kamerabilder, und wo es welche gibt, werden sie zurückgehalten oder erst Monate später veröffentlicht. Die staatliche Rechtfertigung funktioniert wie ein Automatismus: Wer stirbt, war angeblich eine Bedrohung. Wer flieht, „griff an“. Wer stirbt, war angeblich selbst schuld.
So wie bei Lorenz A. Ostern 2025 in Oldenburg, der mit Pfefferspray floh und von mehreren Kugeln – drei davon in den Rücken – tödlich getroffen wurde. So wie bei Mouhamed Dramé, einem 16-jährigen Geflüchteten in Dortmund, der unter psychischer Belastung stand und statt Hilfe einen Kugelhagel empfing. So wie bei unzähligen anderen, deren Namen heute kaum noch jemand kennt. Und immer folgt dasselbe Muster: Erst wird geschossen, dann wird gerechtfertigt. Und schließlich wird geschwiegen. Kein Zufall, sondern Kalkül. Kein Ausrutscher, sondern Teil der Praxis.
Die Bewegung lebt – trotz Repression
Die Straßen erinnern sich. Oldenburg, Dortmund, Delmenhorst, Nienburg. Menschen tragen die Namen. Fordern Aufklärung. Fordern Gerechtigkeit. Und sagen: Das war Mord. Sie lassen sich nicht mehr beruhigen, nicht mehr abspeisen mit leeren Versprechungen, nicht mehr einschüchtern durch martialische Polizeipräsenz bei Mahnwachen. Die Bewegung ist vielfältig, entschlossen und wächst. Gedenktafeln, Demos, Artikel, Reden, Kunst, Musik – all das sind Formen des Widerstands. Die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln.
Die Forderungen richten sich an Politik, Justiz, Medien und Gesellschaft. Sie sind nicht neu, aber dringender denn je. Denn wer schweigt, macht sich mitschuldig. Wer wegschaut, lässt Gewalt geschehen.
Aufklärung und Kontrolle:
Unabhängige Untersuchungskommissionen bei jeder Tötung durch die Polizei
Konsequente Ahndung und Entlassung gewalttätiger Polizisten
Entwaffnung und Entmilitarisierung:
Entwaffnung der Einsatztruppen
Abschaffung von Taser, Maschinenpistolen und Bodycams als Alibi
Erinnerung und Solidarität:
Erinnerung an die Opfer, Gerechtigkeit für die Lebenden
Solidarische Öffentlichkeitsarbeit und Unterstützung der Betroffenen und Angehörigen
Wie Esther Bejarano sagte: "Nie wieder schweigen, wenn Unrecht geschieht."
Wir schweigen nicht. Wir erinnern. Und wir kämpfen. Für die Toten – und für die, die noch leben. Gegen den Staat, der sie täglich bedroht. Gegen ein System, das Gewalt schützt und Menschlichkeit verrät.
Kein Vergeben. Kein Vergessen.
Fälle staatlicher Tötung durch Polizei oder Gewahrsam
Oury Jalloh (Dessau, 2005)
Verbrannt in einer Polizeizelle, an Händen und Füßen gefesselt. Die Polizei behauptete Selbstmord – zahlreiche Gutachten widerlegten das. Keine Verurteilung bis heute. Der Fall steht exemplarisch für institutionellen Rassismus, Vertuschung und Straflosigkeit.
Verbrannt in einer Polizeizelle, an Händen und Füßen gefesselt. Die Polizei behauptete Selbstmord – zahlreiche Gutachten widerlegten das. Keine Verurteilung bis heute. Der Fall steht exemplarisch für institutionellen Rassismus, Vertuschung und Straflosigkeit.
Achidi John (Hamburg, 2001)
19 Jahre alt, stirbt nach zwangsweiser Brechmittelvergabe im Polizeigewahrsam. Verantwortliche blieben straffrei. Der Fall löste bundesweit Proteste aus, wurde jedoch nie juristisch aufgearbeitet.
19 Jahre alt, stirbt nach zwangsweiser Brechmittelvergabe im Polizeigewahrsam. Verantwortliche blieben straffrei. Der Fall löste bundesweit Proteste aus, wurde jedoch nie juristisch aufgearbeitet.
Laye-Alama Condé (Bremen, 2004)
Starb durch dieselbe Prozedur wie Achidi John. Deutschland wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Trotzdem keine Veränderung der polizeilichen Praxis.
Starb durch dieselbe Prozedur wie Achidi John. Deutschland wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Trotzdem keine Veränderung der polizeilichen Praxis.
Amad Ahmad (Kleve, 2018)
Verwechselt, unschuldig inhaftiert, stirbt durch Brand in Zelle. Akten manipuliert, Verfahren eingestellt. Der Fall steht für die katastrophalen Bedingungen in deutschen Justizvollzugsanstalten.
Verwechselt, unschuldig inhaftiert, stirbt durch Brand in Zelle. Akten manipuliert, Verfahren eingestellt. Der Fall steht für die katastrophalen Bedingungen in deutschen Justizvollzugsanstalten.
Mohamed Idrissi (Bochum, 2012)
Stirbt nach Polizeieinsatz in seiner Wohnung. Obduktion ohne klares Ergebnis, keine Anklage. Die Umstände wurden nie aufgeklärt.
Stirbt nach Polizeieinsatz in seiner Wohnung. Obduktion ohne klares Ergebnis, keine Anklage. Die Umstände wurden nie aufgeklärt.
Mouhamed Lamine Dramé (Dortmund, 2022)
16-jähriger Geflüchteter in suizidaler Krise, erschossen durch Maschinenpistole. Alle Polizisten freigesprochen. Das Gericht sprach von einem "Erlaubnistatbestandsirrtum" – ein Persilschein für tödliche Gewalt.
16-jähriger Geflüchteter in suizidaler Krise, erschossen durch Maschinenpistole. Alle Polizisten freigesprochen. Das Gericht sprach von einem "Erlaubnistatbestandsirrtum" – ein Persilschein für tödliche Gewalt.
Bilel G. (Bad Salzuflen, 2023)
34 Schüsse durch die Polizei, überlebt schwer verletzt. Opfer wird selbst angeklagt. Dieser Fall verdeutlicht die Praxis, Betroffene von Polizeigewalt zu kriminalisieren.
34 Schüsse durch die Polizei, überlebt schwer verletzt. Opfer wird selbst angeklagt. Dieser Fall verdeutlicht die Praxis, Betroffene von Polizeigewalt zu kriminalisieren.
Lorenz A. (Oldenburg, 2025)
Schwarzer junger Mann, dreifach von hinten erschossen. Verfahren noch offen. Die Polizei hatte zunächst falsche Angaben über eine angebliche Bewaffnung gemacht.
Schwarzer junger Mann, dreifach von hinten erschossen. Verfahren noch offen. Die Polizei hatte zunächst falsche Angaben über eine angebliche Bewaffnung gemacht.
Hussam Fadl (Berlin, 2016)
Irakischer Familienvater, erschossen bei angeblicher Bedrohungslage. Zeug*innen widersprechen, Verfahren eingestellt. Auch hier: keine unabhängige Untersuchung.
Irakischer Familienvater, erschossen bei angeblicher Bedrohungslage. Zeug*innen widersprechen, Verfahren eingestellt. Auch hier: keine unabhängige Untersuchung.
William Tonou-Mbobda (Hamburg, 2019)
Student, stirbt nach gewaltsamer Fixierung durch Klinik-Sicherheitsdienst. Keine Konsequenzen. Der Tod wurde zynisch als "tragischer Zufall" dargestellt.
Student, stirbt nach gewaltsamer Fixierung durch Klinik-Sicherheitsdienst. Keine Konsequenzen. Der Tod wurde zynisch als "tragischer Zufall" dargestellt.
Ante P. (Mannheim, 2022)
Psychisch erkrankter Mann, stirbt nach brutaler Fixierung durch Polizei. Todesursache: Erstickung. Zwei Polizisten wurden angeklagt, aber der strukturelle Kontext wurde ignoriert.
Psychisch erkrankter Mann, stirbt nach brutaler Fixierung durch Polizei. Todesursache: Erstickung. Zwei Polizisten wurden angeklagt, aber der strukturelle Kontext wurde ignoriert.
Amed Ahmad (Siegburg, 2018)
Fälschlich inhaftiert, Opfer schwerer Gewalt durch Mitinhaftierte und Anstaltsleitung. Starb an den Folgen. Der Staat übernahm keine Verantwortung.
Fälschlich inhaftiert, Opfer schwerer Gewalt durch Mitinhaftierte und Anstaltsleitung. Starb an den Folgen. Der Staat übernahm keine Verantwortung.
Samuel Yeboah (Saarlouis, 1991)
Verbrannte bei rassistischem Brandanschlag. Polizei ignorierte lange Hinweise auf Neonazis. Erst Jahrzehnte später kam es zur Öffnung der Akten. Beispiel für rassistische Ermittlungsverweigerung.
Verbrannte bei rassistischem Brandanschlag. Polizei ignorierte lange Hinweise auf Neonazis. Erst Jahrzehnte später kam es zur Öffnung der Akten. Beispiel für rassistische Ermittlungsverweigerung.