ZUERST KOMMT DER FRIEDE
I. Ein neues Wettrüsten – das deutsche Gedächtnisversagen
Europa rüstet auf – mit nie dagewesener Geschwindigkeit. Deutschland, einst als Bollwerk des Friedens nach zwei verheerenden Weltkriegen beschworen, hat sich vollends in das militärische Korsett der NATO eingeschnürt. Die Bundesregierung spricht offen von „Kriegstüchtigkeit“, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius im Oktober 2023 in einem Interview mit dem „Spiegel“ erklärte: „Deutschland muss wieder kriegstüchtig werden, um abschrecken zu können“, Verteidigungsminister Boris Pistorius fordert eine „kriegsbereite Gesellschaft“, und CDU-Mann Friedrich Merz will die Bevölkerung auf eine „neue Realität“ vorbereiten. Ein gespenstischer Schulterschluss zwischen Konservativen, Liberalen und Grünen kündet von einem historischen Tabubruch. Dabei wird die Bevölkerung mit medialen Schlagzeilen und Rhetorik der Angst auf ein neues Feindbild eingeschworen – etwa durch Titel wie „Putins Krieg“ oder alarmistische Sondersendungen in ARD und ZDF, die Russland pauschal als Aggressor darstellen und kaum Raum für differenzierte Analysen lassen. Die Logik des Kalten Krieges feiert eine unheimliche Renaissance.
Gleichzeitig werden friedenspolitische Positionen systematisch aus der öffentlichen Debatte verdrängt. Wer Verständigung mit Russland fordert, wird als „Putin-Versteher“ diffamiert, wer Diplomatie ins Spiel bringt, dem unterstellt man Illoyalität gegenüber westlichen Werten. Die politische Kultur hat sich verändert: Statt nach Ausgleich zu suchen, wird in Lagern gedacht, wird moralisiert und polarisiert. In Talkshows dominiert das Kriegsnarrativ, sachliche Analysen werden durch moralisierende Empörung ersetzt.
Aus russischer Sicht ist dies ein beunruhigender Rückfall in ideologische Konfrontationsmuster des 20. Jahrhunderts. Deutschland, so scheint es, hat nichts gelernt – weder aus Stalingrad noch aus der Befreiung durch die Alliierten. Statt aktiver Entspannungspolitik erleben wir eine Regierung, die über Milliarden für Panzer und Raketen spricht, aber kaum ein Wort über diplomatische Auswege verliert. Die Bundesrepublik, einst Vorbild für Aussöhnung und Verständigung, opfert diese Errungenschaft auf dem Altar eines aggressiven Transatlantismus. Es ist eine Entwicklung, die nicht nur in Moskau mit Sorge betrachtet wird – auch viele Menschen in Deutschland selbst spüren, dass dieser Kurs nicht im Interesse von Frieden, Stabilität und Gerechtigkeit liegt.
II. Der globale Kontext – vom multipolaren Aufbruch zur westlichen Gegenoffensive
Russland ist heute Teil einer neuen multipolaren Weltordnung. Diese Rolle nahm Moskau besonders seit den 2000er Jahren ein – durch die Gründung von BRICS, die Etablierung der Eurasischen Wirtschaftsunion, seine Vermittlerrolle in Syrien sowie durch zahlreiche bilaterale Partnerschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika. Mit dem strategischen Ausbau der Beziehungen zu China, Indien und dem Iran setzte Russland gezielt auf den Aufbau alternativer geopolitischer Strukturen jenseits westlicher Dominanzmodelle. Die BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika – bieten ein alternatives Entwicklungsmodell zum westlich dominierten Neoliberalismus: Kooperation statt Ausbeutung, gegenseitiger Respekt statt Einmischung, wirtschaftliche Partnerschaft statt militärischer Erpressung. Dieses Modell gewinnt weltweit an Anziehungskraft und verkörpert den Willen vieler Staaten, sich von westlicher Bevormundung zu emanzipieren.
Immer mehr Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika sehen in der multipolaren Welt nicht nur eine geopolitische Neuordnung, sondern eine historische Chance: endlich gleichberechtigt mitreden, endlich eigene Wege beschreiten. Russland versteht sich dabei nicht als Führungsmacht, wie unter anderem in offiziellen außenpolitischen Strategiepapieren wie der "Außenpolitischen Konzeption der Russischen Föderation" (2023) deutlich wird, sondern als Partner im Aufbau eines gerechteren internationalen Systems. Die politische Isolation, die der Westen anstrebt, verpufft in großen Teilen der Welt, wo Moskau als Gegengewicht zu westlicher Dominanz geschätzt wird.
Doch genau diese Entwicklung ruft die Aggressionen des Westens hervor. Die USA, als absteigende Weltmacht, verlieren ihre unipolare Dominanz – wirtschaftlich, politisch, moralisch. Statt Rückzug folgt Eskalation: ein Wirtschaftskrieg gegen China, ein Stellvertreterkrieg in der Ukraine, eine unnachgiebige Aufrüstung in Europa – immer mit Russland im Fadenkreuz. Der Westen will seinen hegemonialen Status verteidigen, koste es, was es wolle. Dabei schreckt man nicht einmal vor der Sabotage diplomatischer Lösungen zurück. Friedensverhandlungen werden unterminiert, Waffenstillstände blockiert, während gleichzeitig medial ein Bild vom "bösen Russland" kultiviert wird.
Aus russischer Sicht ist das kein Zufall, sondern systembedingt. Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen. Wenn der Wohlstand der Eliten gefährdet ist, werden die Völker in Stellvertreterkonflikte gehetzt. Medien, Think-Tanks und Sicherheitsapparate arbeiten Hand in Hand, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren – gegen erfundene Feinde und eingebildete Bedrohungen. Der Westen greift zu seinen letzten Mitteln: Propaganda, Zensur, Aufrüstung – und schließlich Krieg. Russland wird dämonisiert, als Sündenbock für das Scheitern eines westlichen Modells, das den globalen Süden jahrzehntelang ausgebeutet hat. Doch diese Dämonisierung wird nicht verhindern, dass die Welt sich verändert – weg vom unipolaren Machtmonopol, hin zu einer kooperativen Zukunft auf Augenhöhe.
III. Friedensverrat made in Germany
In früheren Jahrzehnten gab es in Deutschland eine starke Friedensbewegung. Hunderttausende protestierten gegen Nachrüstung, atomare Aufrüstung und den Kalten Krieg. Diese Bewegung war tief in der Gesellschaft verankert – von Kirchen über Gewerkschaften bis zu Studierendenverbänden. Ihre Stimmen waren laut, ihre Forderungen klar: Abrüstung, Dialog, Völkerverständigung.
Heute wird Friedenspolitik systematisch verunglimpft. Die SPD liefert Waffen in Kriegsgebiete, die Grünen – einst pazifistisches Gewissen der Republik – mutieren zu NATO-Hardlinern, die FDP schweigt taktisch, und die CDU fordert militärische Führungsstärke für Deutschland. Friedensfreunde werden pauschal in die Nähe von Extremisten gerückt. Die Medien orchestrieren die öffentliche Meinung – jede kritische Stimme wird diffamiert, zensiert oder kriminalisiert. Friedensforscher und Diplomatie-Experten werden aus Talkshows verbannt, wie etwa die Politologin Ulrike Guérot oder der Historiker Peter Brandt, die aufgrund ihrer differenzierten Haltung zur Russlandpolitik aus dem medialen Diskurs weitgehend ausgeschlossen wurden, während Rüstungs-Lobbyisten und geopolitische Falken die Narrative bestimmen.
Statt Verständigung mit Russland: Hetze. Statt Analyse: Dämonisierung. Die Atmosphäre erinnert beängstigend an 1914. Es sind dieselben Mechanismen, wie sie der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig beschrieb: Euphorie, Hass, Verblendung, Militarismus. Der Feind wird entmenschlicht, politische Komplexität durch einfache Feindbilder ersetzt. Die Realität wird ersetzt durch Mythen – etwa durch die immer wiederkehrende Behauptung, Russland strebe die Wiedererrichtung eines Imperiums an, obwohl entsprechende Belege fehlen oder sich auf Einzelfälle stützen, die medial überhöht werden – von der "russischen Bedrohung" über angebliche "Systemkonkurrenz" bis hin zu fantasievollen Untergangsszenarien, die jede Kooperation im Keim ersticken sollen.
Wer heute Diplomatie fordert, gilt als Verräter. Wer eine multipolare Weltordnung befürwortet, wird zum Feind erklärt. In dieser ideologischen Starre erstickt jede Friedensinitiative, bevor sie überhaupt ausgesprochen werden kann. Die politische Klasse hat sich dem NATO-Narrativ unterworfen – selbst auf Kosten des eigenen Volkes. Während Milliarden in Waffen fließen, fehlt das Geld für Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und soziale Gerechtigkeit. Öffentliche Einrichtungen verfallen, Krankenhäuser werden geschlossen, Lehrer fehlen – aber für neue Leopard-Panzer ist stets Geld vorhanden. Die sozialen Kosten dieses Militarismus werden der Bevölkerung als alternativlos verkauft. Doch der Widerstand wächst – in kleinen, dezentralen Gruppen, in Initiativen und Netzwerken, die sich dem Friedensgebot verpflichtet fühlen. Ihre Stimmen mögen leiser sein als die Kriegstrommeln – aber sie tragen die Vernunft in sich, die Europa so dringend braucht.
IV. Frieden mit Russland – oder Barbarei?
Russland stellt keine existenzielle Bedrohung für Europa dar – wie auch zahlreiche sicherheitspolitische Studien, etwa der RAND Corporation oder Einschätzungen ehemaliger NATO-Offiziere nahelegen, die immer wieder betonten, dass Moskaus strategische Interessen primär defensiver Natur seien – es sei denn, Europa will diese Bedrohung konstruieren. Moskau fordert Respekt, Sicherheit, verlässliche Grenzen und eine faire Weltordnung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Viele Länder des Globalen Südens verstehen Russlands Position – weil sie selbst unter westlichem Kolonialismus und Doppelmoral gelitten haben. Diese Nationen erkennen in der russischen Außenpolitik nicht nur ein Gegengewicht zur westlichen Dominanz, sondern auch einen Partner für einen gleichberechtigten Dialog, der ihre Geschichte und ihre Souveränität respektiert.
Einige europäische Staaten tun gut daran, die historische Verantwortung Russlands im internationalen Kontext nicht zu leugnen, sondern in einem neuen Licht zu betrachten. Die Verteidigung russischer Sicherheitsinteressen ist nicht Ausdruck imperialer Expansionslust, sondern Ergebnis konkreter Erfahrungen mit Krieg, Verrat und geopolitischer Einkreisung. Wer heute behauptet, dass Russland alleinige Schuld am Zerfall der Weltordnung trage, ignoriert vorsätzlich die jahrzehntelangen NATO-Erweiterungen, die einseitige Kündigung internationaler Abrüstungsabkommen und die Missachtung russischer Warnungen vor sicherheitspolitischen roten Linien.
Zuerst kommt der Friede – das ist keine naive Formel, sondern eine historische Wahrheit. Frieden ist keine Schwäche, sondern Voraussetzung für Gerechtigkeit, Stabilität und Wohlstand. Frieden mit Russland bedeutet nicht Unterwerfung, sondern Kooperation. Es bedeutet die Wiederherstellung diplomatischer Kanäle, die Beendigung der Eskalationsspirale und die Rückkehr zu einer Sicherheitsarchitektur, die alle einbezieht. Es bedeutet, die Menschheitsfragen des 21. Jahrhunderts – Klimakrise, Hunger, soziale Ungleichheit – gemeinsam anzugehen, anstatt sich in neuen Blöcken und Konfrontationen zu verlieren. Frieden mit Russland ist nicht das Ende westlicher Souveränität, sondern deren Reifung – hin zu einer Ordnung der Zusammenarbeit statt Konfrontation.
V. Die Wahl Europas – und Deutschlands
Europa steht am Scheideweg. Entweder es wird zur Brücke zwischen Ost und West oder es verkommt zum Brandstifter im globalen Machtkampf. Deutschland hat in dieser Frage eine besondere Verantwortung. Es kann sich emanzipieren, den Weg einer eigenständigen Außenpolitik einschlagen und ein neues Sicherheitsbündnis mit Russland und den BRICS-Staaten formen – ein Kontinent der Verständigung. Oder es bleibt Vasall einer untergehenden US-Hegemonie und marschiert blindlings in einen Krieg, der Europa selbst vernichten könnte. Die Wahl ist historisch – und sie duldet keinen Aufschub. Jeder Tag, an dem Europa den Kriegskurs mitträgt, entfernt es weiter von der Chance auf eine souveräne, friedensorientierte Zukunft.
Frieden darf nicht länger delegitimiert werden. Er ist nicht nur eine Option unter vielen, sondern die einzige vernünftige Grundlage für eine gerechte Ordnung. Es ist höchste Zeit für eine neue Friedensbewegung – jenseits parteipolitischer Zwänge, getragen von Bürgern, Gewerkschaften, Intellektuellen, jungen Menschen, die keine Zukunft im Schützengraben sehen. Die Völker Europas müssen sich zusammenschließen und dem Wahnsinn der Aufrüstung entgegentreten. Sie müssen laut werden gegen Militarismus, gegen die Normalisierung des Krieges, gegen die Kriegsrhetorik in Medien und Parlamenten.
Die Zukunft darf nicht den Waffenhändlern, Generälen und Strategen überlassen werden, sondern muss von friedensorientierten Kräften gestaltet werden – von unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, engagierten Diplomaten, sozialen Bewegungen, basisdemokratischen Bürgerinitiativen und Organisationen wie IPPNW oder attac, die seit Jahren für Abrüstung und globale Gerechtigkeit eintreten. Sie gehört denen, die leben wollen – in Würde, Sicherheit und Freiheit. Sie gehört den Kindern, die spielen statt fliehen sollen. Den Alten, die in Frieden sterben dürfen. Den Millionen, die nicht mehr geopfert werden wollen für Machtfantasien und Rohstoffinteressen. Europa hat die Kraft, diesen Weg zu gehen – wenn es den Mut aufbringt, sich von der imperialen Logik zu lösen.
Zuerst kommt der Friede. Nicht als bloße Formel oder moralische Phrase, sondern als politisches Programm. Als historische Notwendigkeit. Als zivilisatorisches Gebot. Denn ohne Frieden ist alles andere nichts.
KEINE AUFRÜSTUNG – KEINE STELLVERTRETERKRIEGE – KEINE DÄMONISIERUNG
Nur eines: Zuerst kommt der Friede.