Zu »Befreiern« mutiert

Zu »Befreiern« mutiert
Syrien: Westen übernimmt HTS-Propaganda der Mäßigung. Realität indschihadistisch kontrolliertem Idlib sieht anders aus
Wiebke Diehl
Während sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Montag »bereit« erklärten,mit »den neuen Machthabern« in Syrien »zusammenzuarbeiten«, und sich der UN-Sondergesandte für Syrien, GeirPedersen, gar »zuversichtlich« gab, weil die führende Miliz Haiat Tahrir Al-Sham (HTS) und andere bewaffnete Gruppen»positive Botschaften« an das syrische Volk gerichtet hätten, gingen Washington und London noch einen Schritt weiter:Dort will man prüfen, die HTS, auf deren Chef die USA noch 2017 ein Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzthaben, von der Terrorliste zu nehmen.
Von der durch Regierungssprecher Steffen Hebestreit postulierten »Basis grundlegender Menschenrechte und demSchutz ethnischer und religiöser Minderheiten« kann in bezug auf die dschihadistischen, größtenteils ausausländischen Kämpfern bestehenden bewaffneten Gruppen in Syrien keine Rede sein. Das gilt, obwohl sich HTS-ChefAbu Mohammed Al-Dscholani, der einst für den IS-Vorläufer »Islamischer Staat im Irak« kämpfte, jetzt mit seinemzivilen Namen Ahmed Al-Scharaa ansprechen lässt und seit seinem »Bruch« mit Al-Qaida im Jahr 2016 versucht, sichund seine Miliz als gemäßigt darzustellen.
Dutzende standrechtliche Hinrichtungen an Unbewaffneten haben die HTS, die »Syrische Nationalarmee« (SNA) undder IS seit dem Sturz von Präsident Baschir Al-Assad an christlichen, kurdischen, alawitischen und anderenMinderheiten angehörenden Zivilisten sowie an syrischen Soldaten durchgeführt. Getötet wurde unter anderemScheich Taufik Al-Buti, Sohn des 2013 von Mitgliedern des HTS-Vorläufers Nusra-Front ermordeten sunnitischenGelehrten und Gegner salafistischer Interpretationen des Islam, Scheich Mohammed Saeed Ramadan Al-Buti. EinDschihadist wird eben nicht zum Freiheitskämpfer, nur weil er seine Kampfuniform gegen einen Anzug tauscht.
Das Register des Grauens im seit Jahren von HTS-Kämpfern unter Al-Dscholani dominierten Idlib ist lang: Frauen wirddas Wahlrecht vorenthalten, das Haus dürfen sie ohne männliche Begleitung und Verschleierung nicht verlassen.Christen werden mindere Rechte zugestanden, Alawiten und Drusen gelten als vom Islam Abgefallene, werdenzwangskonvertiert, enteignet und vertrieben. Andersdenkende, politische Aktivisten und Journalisten werden mitbrutalsten Methoden gefoltert oder ermordet. In Gefängnissen werden Todesurteile ohne Gerichtsverfahren vollstreckt.HTS behindert zudem humanitäre Hilfe in den von ihr kontrollierten Gebieten, erhebt »Steuern« auf diese und verteiltsie selektiv an ihre Günstlinge. Der HTS-Vorläufer Nusra-Front soll zudem spätestens 2013 mit Hilfe der Türkei undSaudi-Arabiens in den Besitz von Rohmaterial für die Produktion chemischer Kampfstoffe und dem entsprechendentechnischen Know-how gelangt sein. Wie andere dschihadistische Gruppen in Syrien, denen ähnliche Verbrechen zurLast gelegt werden, setzt die HTS laut US-Außenministerium und Vereinten Nationen Kinder als menschlicheSchutzschilde, Suizidattentäter und Soldaten ein.
Am Dienstag kündigte HTS-Chef Al-Dscholani an, man werde »nicht zögern, die Kriminellen, Mörder, Sicherheits- undArmeeoffiziere zur Rechenschaft zu ziehen, die an der Folter des syrischen Volks beteiligt waren«. Man werde»Kriegsverbrecher verfolgen und Länder, in die sie geflohen sind, um deren Überstellung bitten«. Es fragt sich, wer dieDschihadisten für ihre seit fast 15 Jahren, gegenwärtig und zukünftig begangenen Verbrechen zur Rechenschaft ziehenwird.
https://www.jungewelt.de/artikel/489719.syrien-zu-befreiern-mutiert.html
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