Willi Ruf
Lebensgeschichte eines hannoverschen Antifaschisten
Kindheit und Herkunft
Willi Ruf wurde am 28. September 1909 im hannoverschen Stadtteil Linden geboren – einem traditionell geprägten Arbeiterviertel mit starkem Zusammenhalt unter der Bevölkerung. Die Familie Ruf lebte in der Weckenstraße 21, in unmittelbarer Nähe zur Bethlehemskirche, die ein zentraler Bezugspunkt im sozialen Leben des Stadtteils war. Sein Vater war Schlosser, ein handwerklich geschickter, fleißiger Mann mit sozialem Gerechtigkeitssinn, seine Mutter eine fürsorgliche und standhafte Hausfrau, die den Familienalltag trotz aller Entbehrungen mit großer Kraft meisterte. Beide Elternteile stammten aus dem niedersächsischen Alfeld an der Leine und trugen eine tiefe Verbundenheit zur einfachen, ländlichen Lebensweise in sich. Zur Familie gehörten neben den Eltern vier Kinder und die Großmutter mütterlicherseits, die eine bedeutende Rolle in der familiären Erziehung spielte. Willi war der Jüngste der Geschwister und wuchs in einem von Einfachheit und familiärem Zusammenhalt geprägten Umfeld auf. Die tägliche Praxis gegenseitiger Hilfe – etwa beim Heizen, Kochen oder der Kinderbetreuung – prägte früh sein Verständnis von Solidarität.
Seine Kindheit fiel in die Jahre des Ersten Weltkriegs, einer Zeit voller Entbehrungen, Unsicherheit und großer gesellschaftlicher Umbrüche. Die Kinder auf den Straßen spielten "Krieg", wobei symbolische Gefechte zwischen Linden und dem Nachbarstadtteil Limmer ausgetragen wurden. Mit Holzlatten und Stricken bewaffnet, führten die Jungen regelrechte Schlachten gegeneinander, ein Spiegelbild der militarisierten Gesellschaft, in der sie aufwuchsen. In der Schule waren patriotische Lieder, Siegesfeiern und kaiserliche Gebetserziehung an der Tagesordnung; die militärische Disziplin durchdrang den gesamten Schulalltag. Der Alltag war von Armut geprägt: Die Versorgungslage war katastrophal, es mangelte an Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizmöglichkeiten. Lebensmittelmarken, stundenlanges Anstehen für Knochen oder Salzheringe sowie Quäkerspeisungen für hungernde Kinder bestimmten das Leben. Der Hunger war ständiger Begleiter, ebenso wie die Angst vor Krankheit und Not. Willi wog mit zehn Jahren kaum 23 Kilogramm, ein deutliches Zeichen für die körperlichen Auswirkungen der Mangelernährung. Seine Erinnerungen an diese Zeit blieben geprägt von Kälte, Hunger und dem Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten war. Gleichzeitig aber bildeten die Erfahrungen von gegenseitiger Unterstützung und Mitgefühl in der Nachbarschaft die Grundlage für sein späteres tiefes soziales und politisches Bewusstsein. Diese frühe Prägung bereitete den Boden für sein wachsendes Interesse an gesellschaftlicher Gerechtigkeit und kollektiver Verantwortung, das ihn während seiner Schulzeit und Ausbildung zunehmend beschäftigte.
Schulzeit und Ausbildung
Willi Ruf besuchte die Volksschule, die er mit 14 Jahren verließ. Die dortige Erziehung war stark von Disziplin und obrigkeitshörigem Denken geprägt, was bei ihm früh den Wunsch nach mehr Gerechtigkeit und Mitbestimmung weckte – ein Impuls, der sein späteres politisches Denken mitbeeinflusste. Sein gesundheitlicher Zustand war durch jahrelange Unterernährung angeschlagen, was ihn körperlich schwächte und seine schulischen Leistungen beeinträchtigte. Eine weiterführende Schulbildung war für ihn unerschwinglich, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch aufgrund der allgemeinen sozialen Lage der Arbeiterfamilien jener Zeit. So entschied er sich für eine handwerkliche Ausbildung und begann 1923 eine vierjährige Lehre als Möbeltischler in der Werkstatt des Tischlermeisters Heinrich Lühmann.
Der Lehrbetrieb war streng hierarchisch organisiert: Der Lehrling stand auf der untersten Stufe, erhielt nur einen geringen Kostgeldbeitrag, beginnend mit 0,65 Mark pro Woche, und wurde vielfältig beansprucht. Willi hatte nicht nur handwerkliche Arbeiten zu verrichten, sondern musste auch im Winter frühmorgens den schlecht ziehenden Ofen im Maschinenraum anheizen, den Hof kehren, Werkzeuge reinigen und auf Geheiß der Meisterin Einkäufe erledigen. Besonders diese Dienste für die Meisterin empfand er als entwürdigend. Als er sich diesem Zwang widersetzte und trotzig ein altes Brot statt eines frischen kaufte, empfand er dies als einen kleinen Akt des Widerstands – eine stille, aber bewusste Geste gegen die entwürdigende Bevormundung und für die Wahrung seiner Würde, bekam er vom Meister rückendeckend den Auftrag, künftig keine Botengänge mehr auszuführen.
Der Umgangston in der Werkstatt war rau, das Betriebsklima angespannt, und die alltäglichen Erfahrungen von Autorität und Hierarchie hinterließen bei ihm bleibenden Eindruck. Rückblickend erkannte Willi Ruf in dieser Phase erste Impulse für seine spätere politische Sensibilität und das wachsende Bedürfnis, gegen Ungerechtigkeit aufzustehen, oft von Schikane geprägt. Dennoch zeigte sich Willi als pflichtbewusster, ehrgeiziger Lehrling, der trotz der widrigen Umstände nicht aufgab. 1928 legte er seine Gesellenprüfung erfolgreich mit der Note 2 ab. Dieser Abschluss war für ihn nicht nur ein beruflicher Meilenstein, sondern auch ein symbolischer Erfolg über die materiellen Widrigkeiten seiner Jugendjahre.
Er arbeitete kurzzeitig als Geselle in seiner Ausbildungswerkstatt, doch die Weltwirtschaftskrise machte sich schnell bemerkbar. Die Aufträge blieben aus, Werkstätten mussten schließen, und Ruf war gezwungen, sich beim Arbeitsamt arbeitslos zu melden. Es folgte eine Zeit voller Unsicherheit und Existenzängste, die durch wechselnde Anstellungen, karge Löhne und häufiges Ausbleiben des Lohns geprägt war. Er musste immer wieder seine Stelle wechseln, manchmal nach wenigen Wochen.
Stationen seiner Gesellentätigkeit waren unter anderem Ütze, Gandesbergen und Eystrup. In diesen ländlichen Regionen fertigte er unter bescheidensten Bedingungen Fallnester für Hühnerzuchtanlagen und führte andere einfache Tischlerarbeiten aus. Oft waren die Arbeitsverhältnisse ausbeuterisch, die Lebensbedingungen erbärmlich: Unbeheizte Unterkünfte, Schlafgelegenheiten auf Stroh in zugigen Dachkammern und eine einseitige, mangelhafte Ernährung bestimmten den Alltag. Ruf lernte in diesen Jahren nicht nur den Wert von Arbeit kennen, sondern auch die brutale Realität der sozialen Ungleichheit. Der Glaube an Gerechtigkeit, Solidarität und eine gerechtere Gesellschaft wuchs in ihm zu einem unerschütterlichen inneren Kompass heran – ein Kompass, der ihn fortan leitete, ihn antrieb, Unrecht beim Namen zu nennen und sich mit ganzer Kraft für eine befreite Gesellschaft einzusetzen wurde in dieser Phase seines Lebens zur festen inneren Überzeugung, die ihn künftig nicht mehr loslassen sollte.
Politische Entwicklung und Widerstand
Die sozialen Missstände, die Ruf am eigenen Leib erlebte – Hunger, Ausbeutung, Arbeitslosigkeit und soziale Demütigung – prägten seinen politischen Weg tiefgreifend. Sie knüpften nahtlos an die Entbehrungen seiner Kindheit an, in der Mangel, Not und Solidarität bereits den Alltag bestimmten, und vertieften seinen Willen, für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Bereits in jungen Jahren wuchs in ihm das Bewusstsein dafür, dass individuelle Anstrengungen allein keine strukturellen Ungleichheiten überwinden konnten. Die Ungerechtigkeiten, die er tagtäglich beobachten und selbst ertragen musste – etwa der Mangel an angemessener Bezahlung, die Willkür der Arbeitgeber oder die Hilflosigkeit gegenüber Mieterhöhungen und Zwangsräumungen – führten bei ihm zu einer wachsenden Überzeugung, dass nur grundlegende gesellschaftliche Veränderungen Abhilfe schaffen könnten.
1930 trat er deshalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) bei, in der Hoffnung, dort für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse kämpfen zu können. Er besuchte Parteiversammlungen, verteilte Flugblätter und nahm an Debatten über soziale Reformen und Arbeitsrecht teil. Besonders prägend war für ihn eine größere Veranstaltung im hannoverschen Gewerkschaftshaus, bei der er gemeinsam mit anderen jungen Arbeitern eine Resolution gegen die Kürzung von Arbeitslosenunterstützung einbrachte – ein Moment, in dem er erstmals öffentlich politische Verantwortung übernahm. Besonders die Idee eines demokratischen Sozialismus faszinierte ihn zunächst – das Versprechen, dass durch Wahlen und parlamentarische Arbeit schrittweise Fortschritte für die arbeitende Bevölkerung erzielt werden könnten.
Doch schon bald stellte er ernüchtert fest, dass die SPD in ihren Positionen zu zögerlich, zu reformorientiert und in entscheidenden Momenten nicht kämpferisch genug war, um den zunehmenden gesellschaftlichen Verwerfungen und dem drohenden Faschismus wirkungsvoll entgegenzutreten. Viele ihrer Führungskräfte wirkten auf ihn angepasst und pragmatisch, zu sehr bedacht auf Kompromisse – wie er es einmal ausdrückte: „Sie redeten viel von Veränderung, aber wenn es ernst wurde, duckten sie sich weg.“ mit einem politischen Gegner, der immer aggressiver auftrat. In Diskussionen mit anderen jungen Arbeitern spürte Ruf, dass er mit seiner wachsenden Entschlossenheit, aktiv Widerstand zu leisten, in der SPD bald an Grenzen stieß. Die Erkenntnis, dass Reformen allein den Vormarsch der Reaktion nicht aufhalten konnten, markierte einen Wendepunkt in seinem politischen Denken.
Engagement in der KPD
Deshalb wechselte er zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die sich radikaler für die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzte. Dort fand er politische Heimat und ideologische Klarheit. Diese bestand für ihn vor allem in der klaren Analyse der Klassenverhältnisse, der Ablehnung von Reformismus und dem entschlossenen Eintreten für eine revolutionäre Überwindung des Kapitalismus – im scharfen Kontrast zur als kompromissbereit empfundenen Linie der SPD. Innerhalb der KPD schloss er sich der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) an, einer kämpferischen Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die traditionelle Gewerkschaftsbewegung zu revolutionieren und die Arbeiterklasse politisch zu mobilisieren. Ruf übernahm Aufgaben als sogenannter Agitpropleiter: Er organisierte Versammlungen, plante Veranstaltungen mit agitatorischem Charakter, bereitete Flugblattaktionen vor, schrieb Beiträge für illegale Publikationen und warb aktiv für gewerkschaftliche und klassenkämpferische Ziele. Mit großem persönlichen Einsatz beteiligte er sich an der Organisation von Streiks, Kulturabenden und politischen Diskussionsrunden – etwa einem spontanen Solidaritätsstreik in einer Möbelfabrik, bei dem sich Kolleginnen und Kollegen gegen willkürliche Lohnkürzungen zur Wehr setzten und Ruf als einer der Wortführer auftrat in Arbeiterclubs, Hinterzimmern von Kneipen oder auf öffentlichen Plätzen – stets mit dem Risiko, von der Polizei observiert oder verhaftet zu werden.
Seine politische Arbeit war eng mit dem Engagement seiner Frau Irmgard verbunden, die er 1932 heiratete. Beide verband nicht nur eine tiefe persönliche Zuneigung, sondern auch der gemeinsame Kampf für eine gerechtere Welt. Gemeinsam engagierten sie sich in der Agitpropgruppe "Rote Einheit", die ein wichtiges Bindeglied zwischen Kunst und politischer Agitation war. Sie veranstalteten Versammlungen, kulturelle Abende, Theateraufführungen mit sozialkritischem Inhalt und Verteilaktionen von Flugschriften. Besonders eindrucksvoll waren die Straßentheateraktionen, etwa das Stück „Der Hungerzug“, das auf öffentlichen Plätzen Hannovers aufgeführt wurde und den sozialen Niedergang der Arbeitslosen thematisierte – mit überlebensgroßen Masken, Trommeln und eindringlichen Parolen zog es regelmäßig Hunderte an und hinterließ nachhaltigen Eindruck in denen sie das Elend der Arbeitslosen, die brutalen Polizeieinsätze oder die Machenschaften der Faschisten satirisch und zugespitzt darstellten. Trotz der sich verschärfenden politischen Lage – insbesondere nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – hielten sie an ihrem Engagement fest. Es war ihnen ein inneres Bedürfnis, der Angst und der wachsenden Einschüchterung eine klare Haltung entgegenzusetzen.
Am 1. Mai 1933, nur wenige Monate nach Hitlers Machtantritt, beteiligte sich Willi Ruf an einer verbotenen Demonstration in Hannover. Diese mutige Tat war Ausdruck seiner Entschlossenheit, selbst unter Repression Gesicht zu zeigen – für viele der beteiligten Genossen bedeutete die Teilnahme an der Demonstration Verhaftung, monatelange Haft oder Berufsverbot. Der Mut, dennoch aufzustehen, zeigte, wie tief der antifaschistische Widerstand in Teilen der Arbeiterbewegung verwurzelt war, auch unter härter werdenden Bedingungen für die Interessen der Arbeiter zu kämpfen. Nur wenige Wochen später, am 19. April 1933, wurde er von der Polizei verhaftet. Die Gestapo hatte den Floristen, in dessen Keller die Agitpropgruppe ein Mai-Flugblatt auf einem Handabziehapparat vervielfältigte, als Spitzel gewonnen. Diese Enttarnung führte zur Zerschlagung der Gruppe und zu Rufs Verhaftung.
Im Polizeipräsidium wurde er schwer misshandelt, geschlagen, gedemütigt, psychisch gebrochen werden sollte er. Doch er schwieg. Anschließend kam er ins Untersuchungsgefängnis an der Leonhardstraße und später in das Gerichtsgefängnis. Die Anklage lautete auf "Vorbereitung zum Hochverrat", ein Vorwurf, der regelmäßig gegen Kommunisten und Widerstandskämpfer verwendet wurde, um sie außer Gefecht zu setzen. Das Gericht verurteilte Willi Ruf zu 18 Monaten Gefängnis. Während seiner Haft wurde auch seine Wohnung durchsucht und die Familie zur Räumung gezwungen. Die Behörden setzten die Familie unter permanente Überwachung; Freunde und Bekannte wurden eingeschüchtert, Besuche blieben aus. Es war eine Zeit der Isolation, der Ungewissheit, aber auch der inneren Festigung. In späteren Gesprächen beschrieb Ruf diese Monate als eine Phase des inneren Wachstums, in der er durch das Schweigen, das Aushalten und die Treue zu seinen Überzeugungen eine tiefe moralische Stärke entwickelte, die ihn für den weiteren Lebensweg prägte. Ruf ließ sich nicht beugen. Seine Überzeugung war stärker als alle Repression.
Zweite Verhaftung und Strafbataillon 999
Auch nach seiner Entlassung 1934 blieb Willi Ruf politisch aktiv, jedoch unter größten Gefahren. Er wusste, dass jeder Kontakt zur illegalen KPD oder zur kommunistischen Widerstandsbewegung unter den wachsamen Augen der Gestapo lebensgefährlich war. Dennoch hielt er heimlich Kontakt zu Genossen, übermittelte Nachrichten, beteiligte sich an Diskussionen in konspirativen Zirkeln und half dabei, Flugblätter zu verbreiten. Sein Mut war nicht unbemerkt geblieben. Im Jahr 1940 wurde er erneut verhaftet, diesmal wegen eines Vergehens gegen das sogenannte Heimtückegesetz. Dieses Gesetz wurde unter den Nationalsozialisten eingeführt, um jede kritische Äußerung über Partei oder Staat mit hohen Strafen zu belegen. Ruf hatte sich in einer privaten Runde kritisch über die Zustände in Deutschland geäußert – bei einem abendlichen Treffen mit ehemaligen Kollegen sagte er sinngemäß: „Die da oben reden von Volksgemeinschaft, aber wir wissen doch längst, wer hungert und wer kassiert.“ Diese Worte, in einem vermeintlich vertrauten Rahmen gesprochen, wurden von einem Mitlauscher denunziert und führten zu seiner Verhaftung – ein Mitlauscher meldete dies der Gestapo.
Nach einer neuerlichen Haftstrafe und ständiger Überwachung durch die politischen Polizeiabteilungen lebte er in einer bedrückenden Atmosphäre der Angst. Dennoch ließ er sich nicht einschüchtern. 1943 erfolgte dann ein erneuter, besonders einschneidender Schritt: Ruf wurde zwangsweise in das Strafbataillon 999 eingezogen. Diese militärische Sondereinheit war eine Art Strafkompanie, in die vor allem politische Gefangene, sogenannte „wehrunwürdige Elemente“, eingegliedert wurden. Es handelte sich um Männer, die wegen oppositioneller Aktivitäten, politischer Überzeugung oder angeblich mangelnder Zuverlässigkeit als Soldaten für reguläre Wehrmachtseinheiten nicht in Frage kamen. Das Strafbataillon 999 war als Teil der „Bewährungsbataillone“ konzipiert und wurde für besonders gefährliche und verlustreiche Fronteinsätze verwendet.
Nach einer kurzen Grundausbildung auf dem Truppenübungsplatz Heuberg wurde Ruf zuerst nach Griechenland versetzt, wo die 999er zur Partisanenbekämpfung eingesetzt wurden. Die brutalen Einsätze gegen die griechische Bevölkerung, die er rückblickend als moralisch tief verstörend und beschämend empfand – besonders eine Razzia in einem kleinen Bergdorf, bei der Dorfbewohner willkürlich aus ihren Häusern gezerrt und mehrere Männer vor den Augen ihrer Familien erschossen wurden, blieb ihm als traumatisches Erlebnis in Erinnerung, das Miterleben von Repressalien gegen Zivilisten, Plünderungen und Erschießungen hinterließen tiefe Spuren bei Ruf. Er versuchte, sich möglichst zurückzuhalten, half heimlich Zivilisten und warnte sie vor bevorstehenden Razzien. Ein offener Widerstand war jedoch kaum möglich – jeder Ungehorsam wurde mit Erschießung bestraft. Dennoch gab es unter den Kameraden vereinzelt stille Gesten der Solidarität: geteiltes Brot, heimliche Warnungen oder das bewusste Verschonen von Zivilisten, wo es möglich war – kleine Handlungen, die Mut erforderten und den moralischen Zusammenhalt trotz aller Brutalität aufrechterhielten. Später wurde er an die Ostfront nach Russland verlegt. Dort erlebte er hautnah das Grauen des Krieges: miserable Versorgung, kaum medizinische Betreuung, ständiger Granatbeschuss, Erfrieren, Hunger, Typhus. Tod und Verwundung waren allgegenwärtig.
Die körperlichen Strapazen, die ständige Angst und die seelische Zermürbung führten schließlich zu einem körperlichen Zusammenbruch. In seinen späteren Erinnerungen sprach Ruf davon als einem Moment völliger Erschöpfung – nicht als Aufgabe, sondern als eine existenzielle Grenze, die ihn zwang, auf das Wesentliche zurückzublicken: den ungebrochenen Willen zu überleben und nicht zu vergessen, wofür er stand. Ruf erkrankte schwer an Typhus und wurde in ein Feldlazarett eingeliefert, wo er nur unzureichend behandelt wurde. Durch einen glücklichen Umstand – vermutlich durch ein Missverständnis oder eine Verwechslung – gelangte er schließlich in ein Kriegsgefangenenlager, von wo aus er ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt wurde. Dort durchlebte er die letzten Monate des Krieges unter unmenschlichen Bedingungen: Hunger, Misshandlungen, Zwangsarbeit, Krankheiten und der tägliche Tod begleiteten ihn und seine Mitgefangenen.
Doch auch in Buchenwald konnte der antifaschistische Geist nicht vollständig ausgelöscht werden. Besonders tief beeindruckt war Ruf von der gegenseitigen Unterstützung unter den Häftlingen: Ein Stück Brot, das heimlich geteilt wurde, eine helfende Hand bei der Zwangsarbeit oder ein stiller Blick der Ermutigung – diese kleinen Gesten stärkten ihn in seiner Überzeugung, dass selbst unter den grausamsten Bedingungen Menschlichkeit möglich war. Ruf schloss sich einem illegalen Lagerkomitee an, das die Solidarität unter den Gefangenen organisierte und in den letzten Kriegswochen die Selbstbefreiung vorbereitete. Als das Lager im April 1945 von der US-Armee befreit wurde, war Willi Ruf schwer geschwächt, aber am Leben – ein Überlebender der nationalsozialistischen Barbarei, der nie von seinen Überzeugungen abließ.
Leben nach 1945
Nach Kriegsende kehrte Willi Ruf nach Hannover zurück. Die Stadt war vom Krieg schwer gezeichnet, viele Gebäude zerstört, die Infrastruktur zusammengebrochen, das öffentliche Leben lag am Boden. Der Neuanfang fiel schwer, insbesondere für politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge, die mit gesundheitlichen Schäden, seelischen Narben und materieller Not zu kämpfen hatten. Gemeinsam mit seiner Frau Irmgard versuchte Willi Ruf, sich mit einer kleinen Tischlerei eine neue Existenz aufzubauen. Beide arbeiteten mit großer Energie daran, Kunden zu gewinnen, Möbel und einfache Haushaltsgegenstände herzustellen und den Betrieb aufrechtzuerhalten. Doch die körperlichen Folgen der jahrelangen Haft, der Zwangsarbeit und der Entbehrungen im Strafbataillon 999 machten ihm zunehmend zu schaffen. Immer wieder musste er krankheitsbedingt pausieren, litt unter Schmerzen, Konzentrationsschwächen und Erschöpfungszuständen. Schließlich war der Kraftaufwand nicht mehr zu bewältigen, und Ruf musste die Tischlerei schweren Herzens aufgeben.
Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, nahm er eine Anstellung als Reiseleiter bei einem hannoverschen Busunternehmen an. Diese Tätigkeit, die zunächst rein praktischer Natur war, entwickelte sich mit der Zeit zu einem wichtigen Element seiner politischen Bildungsarbeit. Ab 1952 organisierte er insbesondere Bildungs- und Kulturfahrten in die Deutsche Demokratische Republik (DDR), wo er Kontakte zu antifaschistischen Organisationen, Gewerkschaften und Gedenkstätten pflegte. Die Fahrten verbanden Erholung mit politischer Aufklärung: Während der Reisen berichtete Ruf von seinen Erlebnissen im Faschismus, erklärte historische Zusammenhänge und warb für Verständigung zwischen Ost und West.
In seiner Freizeit engagierte er sich weiterhin politisch und gesellschaftlich. Er wurde aktives Mitglied der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten" (VVN), Kreisvereinigung Hannover, deren Arbeit ihn sein Leben lang begleitete. Dort beteiligte er sich an der Organisation von Veranstaltungen, Gedenkfeiern, antifaschistischen Stadtrundgängen und Zeitzeugengesprächen. Besonders der Austausch mit jungen Menschen lag ihm am Herzen: Einmal berichtete eine Schülerin nach einem Zeitzeugengespräch tief bewegt, dass sie durch Rufs Erzählung erstmals begriff, was Zivilcourage im Alltag bedeutet – ein Moment, der ihn in seinem Engagement bestärkte und ihm zeigte, wie wichtig das Weitergeben von Erfahrungen ist. In Schulen, Gewerkschaften, Jugendgruppen und Kirchengemeinden sprach er über das Leben im Faschismus, über Verfolgung, Haft und Widerstand, und appellierte eindringlich an das historische Bewusstsein der nachfolgenden Generationen.
Seine klaren Worte, seine Menschlichkeit und seine unerschütterliche Entschlossenheit machten ihn zu einer geschätzten Persönlichkeit im linken Spektrum Hannovers. Er verband die Erfahrung des Leids mit einem ungebrochenen Willen zum Aufbau einer besseren, gerechteren Welt. Sein Leben nach 1945 war geprägt von dem Bemühen, die Lehren aus der Vergangenheit in konkrete politische Bildung, Solidarität und aktives Erinnern zu übersetzen.
Vermächtnis
Willi Ruf steht beispielhaft für den alltäglichen, unbeugsamen Widerstand gegen Faschismus und Krieg – vom hungernden Kind im Ersten Weltkrieg über den politischen Aktivisten der Weimarer Republik, den verfolgten Kommunisten im „Dritten Reich“, den Zwangssoldaten im Strafbataillon 999 bis hin zum Zeitzeugen und Bildungsarbeiter in der Nachkriegszeit. Er war kein Funktionär, sondern ein einfacher Arbeiter, der für seine Überzeugung Verfolgung, Haft, Krieg und Konzentrationslager auf sich nahm. Im Alltag widersetzte er sich durch mutige Flugblattaktionen, den Aufbau von Agitpropgruppen, die Organisation verbotener Versammlungen und die unermüdliche Aufklärung seiner Kolleginnen und Kollegen über die Gefahr des Faschismus – stets unter Lebensgefahr. Sein Lebensweg zeigt eindrücklich, dass der Kampf gegen Unrecht nicht nur auf Barrikaden oder in Redaktionsstuben geführt wird, sondern im Alltag, in der Werkstatt, auf der Straße und im persönlichen Umfeld. Sein Lebensbericht, 1988 durch die VVN Hannover herausgegeben, ist ein bewegendes Zeugnis für die Nachwelt. Es ist die Geschichte eines Menschen, der sich nie mit Ungerechtigkeit abfand, sondern standhaft blieb – auch dann, als es ihn selbst beinahe das Leben kostete.
Ruf lehrte, dass antifaschistischer Widerstand kein Heldentum im klassischen Sinne erfordert, sondern Charakter, Mut, Verantwortungsgefühl und Standhaftigkeit. Es geht darum, Haltung zu zeigen, den eigenen moralischen Kompass nicht zu verlieren – auch unter dem Druck von Repression, sozialer Ächtung und physischer Gewalt. Diese Botschaft vermittelte er nicht nur durch seine Biografie, sondern vor allem durch seine gelebte Konsequenz.
In Gesprächen mit jungen Menschen, in Diskussionen und Veranstaltungen, bei antifaschistischen Stadtrundgängen, politischen Bildungsreisen oder Gedenkveranstaltungen zeigte er stets, wie wichtig es ist, gegen Unrecht nicht zu schweigen. Er war ein eindrücklicher Zeitzeuge, der es verstand, persönliche Erlebnisse mit gesellschaftspolitischen Analysen zu verbinden und so ein Verständnis für Geschichte und Verantwortung zu schaffen. Besonders Jugendlichen gegenüber war es ihm ein Anliegen, nicht mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen, sondern durch Offenheit, Anteilnahme und ehrliches Erinnern zur kritischen Auseinandersetzung zu ermutigen.
Sein Beispiel bleibt Mahnung und Verpflichtung zugleich – gerade in einer Zeit, in der Rassismus, Ausgrenzung und autoritäre Tendenzen wieder erstarken, erinnert uns sein Leben an die Notwendigkeit, wachsam und engagiert für eine demokratische und solidarische Gesellschaft einzustehen. Linden, Hannover und die antifaschistische Bewegung verdanken ihm ein Stück ihrer politischen Geschichte und ihres Gewissens. Willi Ruf ist einer jener Menschen, die das Wort „Widerstand“ mit Inhalt füllen: mit Menschlichkeit, Überzeugung und der unerschütterlichen Hoffnung, dass eine bessere, gerechtere Welt möglich ist – wenn man bereit ist, dafür einzustehen.

Quellen 
Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Biografie Wilhelm Ruf. Online abrufbar unter: https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/wilhelm-ruf/
Willi Ruf: Ein Lebensbericht. Herausgegeben von der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten" (VVN), Kreisvereinigung Hannover. Bearbeitet von Susanne Döscher-Gebauer unter Mitarbeit von Michael Bayartz. Hannover, Februar 1988. Dieses biografische Zeitzeugendokument basiert auf Erinnerungen, Gesprächen und Archivmaterialien aus der Region Hannover. Es stellt die zentrale Grundlage der vorliegenden Biografie dar.
Lauenroth, Jörg: Vorwort zu Ein Lebensbericht. In: Ruf, Willi: Ein Lebensbericht, VVN Hannover 1988. Das Vorwort liefert eine Einordnung der Lebensgeschichte in den Kontext der antifaschistischen Gedenk- und Aufklärungsarbeit der späten 1980er Jahre.
Döscher-Gebauer, Susanne (Red.): Dokumentation des Forschungsprojekts „Widerstand, Verweigerung und Verfolgung in Hannover und Umgebung in der Zeit des Nationalsozialismus“, VVN Hannover 1988.
Archiv der VVN-BdA Niedersachsen, Kreisvereinigung Hannover: Diverse Akten, Zeitzeugenberichte, Flugblätter, Veranstaltungsprotokolle und Schriftstücke aus der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre.
Ruf, Willi: Ein Lebensbericht. Herausgegeben von der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten" (VVN), Kreisvereinigung Hannover. Bearbeitet von Susanne Döscher-Gebauer unter Mitarbeit von Michael Bayartz. Hannover, Februar 1988. Dieses biografische Zeitzeugendokument basiert auf Erinnerungen, Gesprächen und Archivmaterialien aus der Region Hannover. Es stellt die zentrale Grundlage der vorliegenden Biografie dar.
Lauenroth, Jörg: Vorwort zu Ein Lebensbericht. In: Ruf, Willi: Ein Lebensbericht, VVN Hannover 1988. Das Vorwort liefert eine Einordnung der Lebensgeschichte in den Kontext der antifaschistischen Gedenk- und Aufklärungsarbeit der späten 1980er Jahre und beleuchtet die Bedeutung Willi Rufs aus Sicht der damaligen Bewegung.
Döscher-Gebauer, Susanne (Red.): Dokumentation des Forschungsprojekts „Widerstand, Verweigerung und Verfolgung in Hannover und Umgebung in der Zeit des Nationalsozialismus“, VVN Hannover 1988. Diese ergänzende Untersuchung trug zur Kontextualisierung von Rufs Erlebnissen bei und erschloss lokale Widerstandsnetzwerke sowie polizeiliche und juristische Akten.
Archiv der VVN-BdA Niedersachsen, Kreisvereinigung Hannover: Diverse Akten, Zeitzeugenberichte, Flugblätter, Veranstaltungsprotokolle und Schriftstücke aus der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre. Dieses Archiv diente der Überprüfung und Erweiterung der biografischen Angaben sowie der Absicherung einzelner Zeitpunkte und Ereignisse.
Die genannten Quellen wurden sorgfältig geprüft und zusammengetragen, um ein möglichst genaues, vollständiges und historisch belastbares Bild des Lebens von Willi Ruf zu zeichnen.
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