Sturmreif geschossen


Syrien wurde durch Sanktionen in die Knie gezwungen – Westen feiert Dschihadisten als „Befreier“

Sturmreif geschossen
Manfred Ziegler |

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UZ vom 13. Dezember 2024
Vor sieben Jahren setzte das FBI bis zu 10 Millionen US-Dollar auf den Kopf vonMohammed al-Jolani aus – tot oder lebendig. Heute gilt der Chef der terroristischen al-Nusra-Front, heute der Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS), als Befreier Syriens. Wie einKartenhaus brach der syrische Widerstand zusammen. Aleppo, Hama, Homs, Deraa –eine Stadt nach der anderen fi el in die Hände der HTS oder der von der Türkeikontrollierten FSA („Freie Syrische Armee“). Die Off ensive der HTS ähnelte dem Blitzkriegdes IS, der vor zehn Jahren weite Teile des Irak eroberte. Am Ende fi el am 8. Dezemberauch die Hauptstadt widerstandslos. Der gestürzte Präsident Baschar al-Assad verließDamaskus. Israel jubelt. Die Hamas gratulierte den Syrern.
Noch am Abend vor dem Fall von Damaskus hatten sich die Vertreter der„Garantiestaaten“ im Astana-Prozess (Türkei, Russland und Iran) mit VertreternÄgyptens, Jordaniens und des Irak getroff en. Sie beschlossen, dass es anders alserwartet kein militärisches Eingreifen geben würde. Zum wiederholten Male wurden diePhrasen von „territorialer Einheit Syriens“ und einem „politischen Prozess“ formuliert,um damit den Angreifern ein Gesprächsangebot zu machen. Es war der Versuch, anInstitutionen zu retten, was noch zu retten war.
Der syrische Ministerpräsident Mohammed al-Dschalali erklärte seine Bereitschaft, mitjeder neuen Führung zusammenzuarbeiten. Er rief dazu auf, die staatlichenInstitutionen zu erhalten und erklärte, er würde am nächsten Tag ganz normal zurArbeit in seinem Büro erscheinen. Unterstützt wurde er dabei von al-Jolani, dem Führerder Angreifer. Der verbot auf seinem Telegram-Kanal allen Milizen, staatlicheInstitutionen zu besetzen. Sie würden unter Kontrolle des Ministerpräsidenten bleiben,bis sie offi ziell übergeben würden.
Al-Jolani war federführend beim Sturz von Assad. Er ist Syrer aus wohlhabendem Hauseund bewunderte die Angreifer vom 11. September. Er trat al-Kaida bei und kämpfte imIrak. Mit Beginn des Krieges kehrte er nach Syrien zurück und gründete die Nusra-Frontals Teil von al-Kaida. Später distanzierte er sich von einigen seiner Ideen, er gilt
manchen Beobachtern nun als „pragmatischer Radikaler“. Die US-Regierung plantbereits, seine Organisation von der Liste der Terrororganisationen zu streichen.
Wie konnte Syrien so widerstandslos zerfallen? War es der türkische Einfl uss, der ausder vorgeblichen „Deeskalationszone“ in Idlib ein Trainingslager für Dschihadistenmachte? Oder waren es britische und US-amerikanische Geheimdienstinformationenfür HTS – die es vermutlich gab? War es wegen der neuartigen Waff e der Drohnen, überdie die Angreifer in großem Maßstab verfügten – anders als die syrische Armee? Gab esdie heimliche Zusammenarbeit von Teilen der Armee mit den Angreifern, wie 2014 imIrak? Oder hatten die unzähligen israelischen Angriff e Syrien sturmreif geschossen?
All das trug zur Niederlage bei. Aber vielleicht am wichtigsten war, dass es für Syrienkeine Perspektive, keinen Weg in die Zukunft gab. Das Land war nicht in der Lage,Widerstand gegen die westlichen Sanktionen zu leisten. Netzwerke von Macht undEinfl uss waren zu stark und zu wenig pragmatisch.
Nach zwölf Jahren Krieg und 20 Jahren Sanktionen sind die Syrer vollständig verarmt.Das Land, das einst eine Million Flüchtlinge aus dem Irak aufgenommen hatte, schickteseine Söhne und Töchter selbst ins Ausland. Es gab nichts mehr zu verteidigen.
Die USA hatten vom ersten Tag des Krieges an klargemacht, dass es für Syrien unterAssad keine Zukunft geben würde – und alles dafür getan, dieses Ziel zu erreichen.Wieder und wieder betonte die damalige Außenministerin der USA, Hillary Clinton – undspäter ihre Nachfolger –, Syrien unter Assad müsse zerstört werden. Auch wenn es nichtimmer danach aussah, waren die USA mächtig genug, dieses Ziel zu erreichen.
Auch China sah, dass Syrien nicht mehr zu retten war – und beließ es zur Unterstützungbei kostenfreien Erklärungen. Investitionen – Fehlanzeige. Regierung und Investorentrauten der Stabilität des Landes nicht.
Die zahllosen Luftangriffe Israels, die schwersten seit dem Krieg von 1973, und dieAnnexion weiterer Teile des Golan, das Vordringen in den Süden von Damaskus, dieEroberung von Gebieten im Norden durch die Türkei beziehungsweise ihre „SyrischeNationale Armee“ zeigten schon am Tag danach, dass die Freude vieler Syrer über denSturz Assads nicht grenzenlos sein wird.

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