Rudolf Steiner –Reaktionär oder Weltverbesserer
Zwischen Okkultismus und autoritärer Erziehung
Vor hundert Jahren starb Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie. Die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere die Coronapandemie, haben eine neue, schärfere Auseinandersetzung mit seiner Lehre erzwungen. In vielen Waldorfschulen, der bekanntesten Einrichtung der anthroposophischen Bewegung, offenbarte sich eine eklatante Wissenschaftsfeindlichkeit. Maskenverweigerung, Impfgegnerschaft und die offene Nähe zu Verschwörungserzählungen, wie sie etwa durch die Beteiligung anthroposophischer Akteure an sogenannten „Querdenker“-Demonstrationen oder durch öffentlich dokumentierte Stellungnahmen von Waldorf-Lehrkräften gegen die Pandemieverordnungen sichtbar wurden machten deutlich, dass diese Schulen keineswegs einen neutralen Bildungsansatz verfolgen, sondern in einem festen ideologischen Raster operieren. Dabei werden wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur ignoriert, sondern aktiv bekämpft – mit dem Verweis auf eine vermeintlich „höhere“ Einsicht, die angeblich jenseits naturwissenschaftlicher Nachprüfbarkeit liegt.
Diese Haltung ist kein Zufall, sondern wurzelt tief in den Grundannahmen der Anthroposophie, die Erkenntnis nicht durch rationale Analyse, sondern durch geistig-religiöse „Schau“ gewinnen will. Damit wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, was kritische Stimmen wie Peter Bierl schon in den 1990er Jahren formulierten: Hinter der anthroposophischen Weltanschauung verbirgt sich ein irrationales Konglomerat aus Esoterik, Okkultismus, Rassentheorien, mystischem Elitedenken und einer tief verankerten Ablehnung moderner Wissenschaft.
Zudem zeigt sich, dass diese Ideologie nicht harmlos ist. Sie wirkt in konkreten gesellschaftlichen Bereichen – vom Unterricht über das Gesundheitswesen bis hin zur Landwirtschaft – und beeinflusst das Denken und Handeln zahlreicher Menschen. Besonders gefährlich ist die Tendenz, kritische Reflexion zu vermeiden, indem jede Abweichung vom anthroposophischen Weltbild als Ausdruck mangelnder geistiger Reife gedeutet wird. Auf diese Weise wird ein geschlossenes System aufrechterhalten, das Immunität gegenüber jeder Form von Kritik beansprucht – ein Kennzeichen autoritärer Denkmodelle. Steiner selbst trat stets als Verkünder überzeitlicher Wahrheiten auf und machte sich so zum Zentrum einer weltanschaulichen Bewegung, deren Einfluss auch heute noch weit unterschätzt wird.
Der Weg zur Anthroposophie
Rudolf Steiner wurde 1861 im heutigen Kroatien geboren, in einer Zeit, in der das europäische Denken zwischen Aufklärung und Mystizismus schwankte. Die geistige Landschaft Mitteleuropas war geprägt von einer tiefen Verunsicherung durch die Folgen der industriellen Revolution, zunehmender Entfremdung und einem wachsenden Interesse an alternativen Weltdeutungen. Steiner wuchs in einem Umfeld auf, das sowohl vom Fortschrittsglauben als auch von der Suche nach geistig-religiösem Halt bestimmt war. Zunächst als Herausgeber naturwissenschaftlicher Texte Goethes tätig, versuchte er sich an einer wissenschaftlich-philosophischen Laufbahn, die jedoch mangels akademischer Anerkennung scheiterte. Seine Versuche, in der bürgerlichen Bildungslandschaft Fuß zu fassen, blieben erfolglos; seine Dissertation wurde nur mit Mühe angenommen und seine akademische Karriere endete, bevor sie wirklich begonnen hatte.
Diese wiederholten Rückschläge führten dazu, dass sich Steiner mehr und mehr dem Esoterischen zuwandte. Um 1900 wandte er sich der Theosophie zu, einer von Helena Petrovna Blavatsky begründeten Bewegung, die den Anspruch erhob, antike Weisheiten mit modernen Ideen zu verbinden. Innerhalb dieser Szene stieg Steiner rasch auf, distanzierte sich jedoch bald von ihren lehrhaften und explizit östlich geprägten Lehren. Aus einer Mischung von fernöstlichen Glaubensvorstellungen, christlicher Mystik, okkulten Ideen, pseudowissenschaftlicher Rassenlehre und philosophischen Versatzstücken entwickelte er seine eigene geheimlehrerische Schule: die Anthroposophie. Diese sollte nicht nur eine Weltanschauung sein, sondern eine umfassende Lebenspraxis, die Kunst, Wissenschaft, Religion und Alltag miteinander vereinte.
Sein System war dabei weniger originell als es auf den ersten Blick erscheint. Viele seiner Ideen waren schlicht abgeschrieben, umformuliert und durch seine behaupteten „hellseherischen“ Fähigkeiten legitimiert. Dabei ging Steiner methodisch vor: Er las umfangreiche geheimlehrerische Literatur, kombinierte sie mit eigenen Interpretationen und präsentierte das Ergebnis als direkte Offenbarung aus höheren geistigen Sphären. Dieses Vorgehen erlaubte es ihm, sich zugleich als visionärer Denker und als Kanal für eine überpersönliche Wahrheit zu inszenieren – eine Strategie, die ihm nicht nur Anhänger, sondern auch beträchtlichen Einfluss im Bildungs- und Gesundheitswesen einbrachte.
Erkenntnis durch Hellsehen?
Steiner beanspruchte für sich, Zugang zu höheren geistigen Welten zu besitzen. Seine sogenannten Erkenntnisse beruhen auf Meditation, Konzentration und dem Konzept der "Akasha-Chronik", einer mystischen Weltgeschichte, die nur Eingeweihten zugänglich sei. Diese geistige Chronik sei nach Steiner eine Art überirdisches Archiv, das in der anthroposophischen Praxis als Quelle tieferer Einsichten über individuelle Schicksale, historische Ereignisse und zukünftige Entwicklungen gilt. Viele Anhänger glauben, dass erfahrene Eingeweihte durch meditative Versenkung Zugang zu diesen "kosmischen Aufzeichnungen" erhalten können, um etwa karmische Ursachen von Krankheiten oder zwischenmenschlichen Konflikten zu erkennen. In der anthroposophischen Medizin und Pädagogik wird sie somit oft als Begründung für individuelle Therapie- oder Erziehungsentscheidungen herangezogen, das alle Gedanken, Taten und Gefühle jedes einzelnen Menschen speichert. Wer eingeweiht sei, könne nicht nur Vergangenes auslesen, sondern auch Zukünftiges erahnen.
Steiner stellte sich damit als eine Art Prophet dar, der Einblick in die innersten Zusammenhänge des Weltgeschehens habe. Seine Beschreibungen dieser jenseitigen Sphären waren detailliert, wirkten aber häufig wie ein Spiegel seiner Lektüreerfahrungen. Kritiker wie Helmut Zander konnten vielfach nachweisen, dass viele seiner "Visionen" auffällige Parallelen zu theosophischen und geheimlehrerischen Vorlagen aufweisen.
Diese Form der Erkenntnis verunmöglicht jede rationale Kritik: Nur wer seinen geheimlehrerischen Schulungsweg geht, soll seine Lehre wirklich verstehen können. Das führt zu einer geschlossenen Gemeinschaft, in der Zweifel und Infragestellung als Mangel an geistig-religiöser Reife gewertet werden. Kritiker, so Steiner, wären geistig minderentwickelt, unfähig zur wahren Erkenntnis. Diese Immunisierung gegenüber Kritik ist ein Grundpfeiler jeder lehrhaften Lehre und erinnert an die Mechanismen autoritärer Sekten: Wer nicht glaubt, hat den Weg zur Wahrheit noch nicht gefunden – und ist somit selbst schuld an seiner Unwissenheit. So etabliert sich eine Erkenntniselite, die allein das Recht beansprucht, über Wirklichkeit zu urteilen.
Magisches Denken mit gefährlichen Folgen
Ein zentrales Element seiner Denkweise ist die Bildung von Analogien: Pflanzen, Planeten, Metalle, Krankheiten und Menschen werden als Teil eines übergeordneten geistig-religiösen Zusammenhangs betrachtet. Diese Verbindungen beruhen jedoch nicht auf wissenschaftlicher Beobachtung oder experimenteller Bestätigung, sondern auf willkürlichen Ähnlichkeiten, symbolischen Deutungen und subjektiven Eindrücken, die Steiner als "geistige Einsichten" präsentierte. Ein Beispiel ist die Annahme, dass Eisen mit dem Planeten Mars in Verbindung stehe, weil beide als Ausdruck von Kampf und Aktivität gedeutet würden.
Besonders bekannt ist die Behauptung, die Mistel eigne sich als Heilmittel gegen Krebs, weil sie wie der Tumor „parasitär“ wachse. Daraus leitet sich in der anthroposophischen Medizin die Anwendung der Misteltherapie ab, die als geistig-religiös begründet gilt. Diese Vorstellung ignoriert jedoch grundlegende Erkenntnisse der modernen Onkologie. Obwohl wissenschaftliche Studien keine entsprechende Wirkung feststellen konnten, wird die Mistel bis heute in anthroposophischen Kreisen eingesetzt – mitunter zum Schaden der Betroffenen, da sie eine wirksame Therapie verzögern oder ganz verhindern kann. In einigen Fällen werden schwerkranke Menschen bewusst von schulmedizinischen Behandlungen abgehalten, weil angeblich eine „ganzheitliche“ und „seelenfreundliche“ Therapieform überlegen sei.
Diese Art von magischem Denken zieht sich wie ein roter Faden durch viele Bereiche der anthroposophischen Praxis. Es ersetzt rationale Analyse durch symbolische Zuschreibungen und führt so zu Entscheidungen, die nicht am tatsächlichen Nutzen für den Menschen orientiert sind, sondern an einer imaginierten geistigen Weltordnung. Die Folgen können gravierend sein – nicht nur für die individuelle Gesundheit, sondern auch für das öffentliche Vertrauen in medizinische Verantwortung und Aufklärung.
Die Waldorfschule –
geistig-religiöse Hierarchien im Klassenzimmer
geistig-religiöse Hierarchien im Klassenzimmer
In der Waldorfpädagogik, die Steiner entwarf, wird Kindern eine vorgeburtliche Existenz unterstellt, aus der sich ihre Charaktere, Fähigkeiten und Lebensaufgaben ableiten sollen. Diese Idee der Reinkarnation ist zentral: Die Kinder gelten als Seelen auf einem geistigen Entwicklungsweg, und der Lehrer hat die Aufgabe, diese Seelen zu erkennen und zu "führen". Pädagogik wird damit nicht als Anleitung zum selbstständigen Denken verstanden, sondern als geistig-religiöser Dienst an einem vorbestimmten Seelenplan. Die Sitzordnung im Klassenraum richtet sich nach antiken Temperamentslehren, die wiederum in einem kosmischen Zusammenhang stehen sollen. So sitzen die Melancholiker links, die Choleriker rechts, die Sanguiniker vorn, die Phlegmatiker hinten – eine Einteilung, die weder durch moderne Psychologie noch durch pädagogische Forschung gedeckt ist, sondern auf spekulativen Analogien basiert.
Wer etwa als Kind im Aufsatz das Wort „ich“ unterstreicht, galt Steiner als „Verbrechernatur“ – eine Einschätzung, die auf eine Aussage aus seinem Vortrag vom 24. Juni 1921 zurückgeht, in dem er äußerte, solche Kinder entwickelten kriminelle Anlagen. Auch andere Merkmale wie der Schädelumfang, die Körperhaltung oder die Stimmlage wurden in der Waldorfpädagogik gedeutet – oft mit drastischen Konsequenzen für die Einschätzung und Behandlung eines Kindes. Diese Praxis führt zu frühzeitiger Etikettierung und sozialer Selektion, wobei pädagogische Entscheidungen nicht auf der Beobachtung realen Verhaltens, sondern auf vermeintlich geistigen Eigenschaften beruhen.
Steiner vertrat ein autoritäres Erziehungsideal, in dem das Kind nicht aus Erkenntnis, sondern aus Gehorsam glaubt: „weil der Vater, die Mutter oder der Lehrer es gesagt haben“. Der Lehrer wird nicht als Lernbegleiter verstanden, sondern als Eingeweihter in höhere geistige Wahrheiten. Er soll intuitiv erfassen, was die "Inkarnation" des Kindes verlangt, und entsprechend handeln. Diese autoritäre Rolle des Lehrers erschwert jede Form kritischer Auseinandersetzung im Unterricht. Bildung wird so zu einem religiös-rituellen Vorgang, nicht zu einem Prozess des gemeinsamen Denkens und Erfahrens.
Ökonomische Verwertung einer Ideologie
Nicht nur im Bildungswesen, auch in der Landwirtschaft (Demeter), Medizin (anthroposophische Kliniken) und Kosmetik (Weleda, Wala) wirken Steiners Vorstellungen weiter. Seine geheimlehrerischen Ideen wurden dabei in marktfähige Produkte und Dienstleistungen überführt, die sich in einer Zeit wachsender Sinnsuche und geistig-religiöser Bedürfnislage hervorragend verkaufen lassen. Ihre kommerzielle Verwertung richtet sich an ein grün-bürgerliches Publikum, das Spiritualität, Exklusivität und „Natürlichkeit“ sucht, ohne sich der ideologischen Hintergründe bewusst zu sein oder diese überhaupt hinterfragt. Die Marken versprechen Distinktion durch „kosmische“ Produktion, sei es durch nach Mondphasen angebautes Gemüse oder durch mit „Lebenskräften“ angereicherte Salben. Dabei wird der Irrationalismus als alternative Wahrheit inszeniert, eingebettet in das Versprechen einer heileren Welt.
Die Anhänger dieser Produkte glauben häufig, sie entschieden sich bewusst für etwas Gutes, auch wenn vielen von ihnen die ideologische Grundlage nicht bekannt ist oder sie diese nicht aktiv teilen, Ökologisches, Gesundes. Doch statt auf überprüfbare ökologische Standards oder wissenschaftlich fundierte Nachhaltigkeit zu setzen, orientieren sich diese Angebote an den spekulativen Lehren Steiners: Der Ackerboden soll "ätherisch aufgeladen" werden, das Gemüse unter Einbeziehung von Sternkonstellationen gedeihen. Bei der Herstellung von Präparaten und Kosmetika kommen Rituale zum Einsatz, deren Nutzen sich allein aus der anthroposophischen Symbolik erschließt.
Besonders problematisch ist, dass große Bio-Siegel wie Demeter mittlerweile eine starke wirtschaftliche Stellung eingenommen haben, ohne dass die Öffentlichkeit umfassend über die weltanschauliche Grundlage informiert wird. Damit wird ein Markt geschaffen, in dem sich Esoterik mit Lifestyle, Elitedenken mit Konsum verbindet. In vielen Fällen fungiert die anthroposophische Markenwelt als kulturelles Distinktionsinstrument für gut situierte Käufer, die sich mit dem Erwerb dieser Produkte auch ein moralisches Überlegenheitsgefühl aneignen. Das schafft nicht nur eine gefährliche ideologische Schieflage, sondern erschwert auch die Entwicklung einer wirklich kritischen Konsumkultur.
Rassistische und autoritäre Weltbilder
Steiner und das Verhältnis zum Faschismus
Angesichts des autoritären und hierarchischen Menschenbildes, das Rudolf Steiner vertrat, stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis seiner Lehren zu faschistischen Ideologien. Zwar wird Steiner gelegentlich von seinen Anhängern als Gegner des Faschismus dargestellt, doch diese Darstellung greift zu kurz. Während sich die Anthroposophie institutionell in einzelnen Fällen vom Faschismus distanzierte, zeigen sich auf inhaltlicher Ebene deutliche ideologische Schnittmengen.
Steiners Denken basiert auf einer klaren Unterscheidung zwischen „höher“ und „niedriger“ entwickelten Menschen, Rassen und Kulturen. Solche Vorstellungen lieferten – auch wenn sie geistig-religiös überhöht daherkamen – eine weltanschauliche Grundlage für Auslese, Ungleichwertigkeit und herrschaftliche Lenkung des Gemeinwesens. Die Idee einer geistigen Elite, die im Sinne kosmischer Gesetze über das Schicksal der „Unreifen“ richtet, gleicht in ihrer Struktur den Führungsideologien faschistischer Systeme. Auch die Ablehnung demokratischer Gleichheitsprinzipien, der Glaube an charakterstarke Führergestalten und die Betonung „natürlicher Ordnungen“ verbinden Steiner mit reaktionären, völkischen Strömungen seiner Zeit.
Tatsächlich versuchten sich manche Anthroposophen nach 1933 mit dem Faschismus zu arrangieren. Zu nennen sind hier etwa prominente Vertreter wie Friedrich Rittelmeyer, Gründer der Christengemeinschaft, der öffentlich um Anerkennung durch das Regime warb, oder Ehrenfried Pfeiffer, der versuchte, die biodynamische Landwirtschaft in den Dienst nationalsozialistischer Ernährungspolitik zu stellen. Auch die Anthroposophische Gesellschaft selbst bemühte sich in dieser Zeit um eine strategische Nähe zu Teilen des Regimes, um ihre Institutionen zu schützen. Es kam zu ideologischen Überschneidungen im Bereich der „rassischen Hygiene“, der geistig-religiös aufgeladenen Naturmystik und des autoritären Gemeinschaftsbildes. Zwar wurden einzelne anthroposophische Einrichtungen verboten, andere jedoch geduldet oder sogar gefördert – insbesondere, wenn sie sich loyal gegenüber dem NS-Regime zeigten. Die inneren Widersprüche – teils Abgrenzung, teils Annäherung – zeigen, dass es zwischen der Anthroposophie und dem Faschismus keine klare Trennlinie gibt. Zwar wurde die Bewegung vereinzelt unterdrückt, etwa wenn sie mit konkurrierenden weltanschaulichen Ansprüchen dem totalitären Machtanspruch des Regimes in die Quere kam, doch diese Verbote waren taktischer Natur und nicht Ausdruck grundsätzlicher Gegensätze, sondern ein schwankendes oder wechselhaftes Verhältnis von Konkurrenz und Kompatibilität.
Diese Zwiespältigkeit Beziehung ist kein historischer Zufall, sondern Ausdruck einer weltanschaulichen Nähe, die in den Grundannahmen über „geistige Hierarchien“, „Volksseelen“ und „karmische Schuld“ verankert ist. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Steiner und seiner Bewegung muss daher auch deren Anschlussfähigkeit an faschistische Denkmuster thematisieren – nicht nur aus historischem Interesse, sondern als Mahnung für die Gegenwart.
Steiner vertrat zeitlebens deutschnationale und antisemitische Überzeugungen. Schon in seinen frühen Schriften zeigt sich ein ausgeprägter Hang zu ethnisch-völkischen Denkfiguren, die er später mit seinen geistig-religiösen Überzeugungen verknüpfte. Er war Anhänger eines hierarchischen Menschenbildes, das „Wurzelrassen“, „Volksgeister“ und „geistige Entwicklungsstufen“ unterschied. In seiner Vorstellung existierten auf der Erde unterschiedliche Menschentypen, die sich auf verschiedenen Stufen der geistigen Entwicklung befänden. Diese Einteilung führte dazu, dass bestimmte „Rassen“ als degeneriert oder rückständig dargestellt wurden, während andere – vor allem die „arische“ – als Träger einer fortgeschrittenen geistigen Mission galten.
In Steiners geheimlehrerischer Kosmologie konnten sogenannte „niedere Rassen“ durch Reinkarnation aufsteigen, doch war dieser Aufstieg an ein strenges karmisches Gesetz gebunden, das jegliches Leid als Folge vergangenen Fehlverhaltens interpretierte. Ein Denken, das sowohl rassistisch als auch sozialdarwinistisch ist und letztlich auch Gewalt, Krieg und Unterdrückung metaphysisch rechtfertigt. Die Reinkarnationslehre diente ihm somit als ideologisches Instrument, um bestehende gesellschaftliche und koloniale Machtverhältnisse geistig-religiös zu legitimieren. Opfer von Gewalt oder Krieg hätten karmisch „verdient“, was ihnen widerfuhr, da ihre Seelen durch frühere Taten selbst schuldhaft verstrickt seien.
Diese Sichtweise entmenschlicht und verhöhnt Betroffene. So etwa, wenn in anthroposophisch geführten Kliniken Patienten mit schweren Krankheiten wie Krebs mit dem Verweis auf karmische Schuld oder frühere Leben von schulmedizinischer Behandlung abgehalten werden – eine Praxis, die immer wieder öffentlich dokumentiert wurde und das Leid der Betroffenen noch vertieft. Sie verschiebt Verantwortung vom Täter zum Opfer und verhindert jede Form solidarischen Mitgefühls. Statt konkrete gesellschaftliche Ursachen von Ungleichheit und Leid zu benennen, erklärt Steiner sie zum Ergebnis eines unsichtbaren, kosmischen Plans. Besonders brisant ist, dass diese Vorstellungen in der heutigen anthroposophischen Praxis selten offen ausgesprochen, aber in konkreten institutionellen Strukturen fortgeführt werden – etwa durch die Praxis der Temperamentenzuordnung in Waldorfschulen, die Einteilung von Schülern nach äußeren Merkmalen oder die Anwendung geheimlehrerisch begründeter Behandlungsmethoden in anthroposophischen Kliniken, aber strukturell fortgeschrieben werden. So bleibt ein Fundament bestehen, das auf Ungleichheit und geistig-religiöser Auslese beruht – in krassem Gegensatz zu den Idealen einer egalitären, aufgeklärten Gesellschaft.
Ein ideologisches Erbe mit Wirkung
Heute erscheint es befremdlich, wie unkritisch viele Menschen diesen Lehren folgen. Die Anthroposophie ist kein harmloses geistig-religiöses Angebot, sondern ein ideologisches Gebäude, das auf irrationalem Dogmatismus und autoritärem Denken fußt. Ihre angebliche Ganzheitlichkeit entpuppt sich als geheimlehrerischer Vorherbestimmungslehre, der gesellschaftliche und individuelle Verantwortung durch kosmische Vorherbestimmung ersetzt. Dabei wird suggeriert, alles Leid, jede Ungleichheit und jedes Scheitern sei Ausdruck eines höheren Plans und müsse daher als sinnvoll hingenommen werden. Auf diese Weise werden reale soziale Missstände nicht nur relativiert, sondern legitimiert.
Ihre Wirkung reicht weit in bürgerliche Milieus hinein und bildet dort einen kulturellen Resonanzraum für Elitedenken und Wissenschaftsverachtung. Besonders in der gebildeten, urbanen Mittelschicht erfreut sich die Anthroposophie großer Beliebtheit, weil sie eine geistig-religiöse Weltdeutung mit dem Wunsch nach Abgrenzung von der „Masse“ verbindet. Wer Demeter kauft, Weleda nutzt oder sein Kind auf eine Waldorfschule schickt, zeigt damit nicht selten auch ein Bedürfnis nach sozialer Differenzierung. Diese Praxis reproduziert eine kulturelle Hierarchie, in der sich eine kleine, angeblich „sehende“ Elite über den rationalen Rest der Gesellschaft erhebt.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Steiner ist nicht nur historisch, sondern auch politisch notwendig. Denn seine Lehren sind mehr als ein obskures Gedankengebäude: Sie haben reale Auswirkungen auf Bildung, Gesundheit und gesellschaftliches Bewusstsein. Sie unterlaufen demokratische Werte, indem sie eine „aristokratische Erkenntnishierarchie“ propagieren, in der nur wenige „Eingeweihte“ zur Wahrheit befähigt sind. In dieser Perspektive ist der demokratische öffentliche Debatte ein Irrweg, der den Zugang zur „geistigen Wahrheit“ verstellt. Damit steht die Anthroposophie im klaren Gegensatz zu einer aufklärerischen, emanzipatorischen Gesellschaft, die auf kritischer Reflexion, sozialer Gerechtigkeit und wissenschaftlicher Erkenntnis beruht.
Notwendig ist daher eine breite öffentliche Aufklärung, etwa durch die Integration entsprechender Inhalte in schulische Lehrpläne, kritische Bildungsangebote für Erwachsene, journalistische Recherchen, mediale Formate zur Wissenschaftsvermittlung sowie klare politische Rahmenbedingungen für weltanschaulich geprägte Institutionen über die Hintergründe dieser Bewegung, ihre historische Verwurzelung in autoritären und rassistischen Denkstrukturen sowie ihre heutige ideologische Wirkung. Nur so kann verhindert werden, dass sich geheimlehrerisches Gedankengut weiter in gesellschaftlichen Institutionen verankert und unter dem Deckmantel von Ganzheitlichkeit und „alternativer Weltsicht“ zur Normalität wird.