Militarisierung im Gesundheitswesen:
Kriegstüchtig machen, kaputtsparen
Wenn das Skalpell dem General salutieren soll
Deutschland wird zur Drehscheibe eines neuen großen Krieges umgebaut. Während Panzerachsen, Munitionswerke und Truppenverlegungen Schlagzeilen machen, vollzieht sich im Schatten eine zweite „Zeitenwende“: das Durchmilitarisieren der zivilen Medizin. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des Deutschen Ärztetages 2025, der in seinen Beschlüssen offen forderte, das Gesundheitssystem müsse sich „auf den Bündnis- und Verteidigungsfall vorbereiten“. Verbände, Ministerien und Militärstäbe sekundieren: Das gesamte Gesundheitssystem müsse sich „auf ein Kriegsszenario vorbereiten“. Die Parole lautet: kriegstüchtig werden – koste es die Gesellschaft, was es wolle. Dieser Kurs ist brandgefährlich. Er droht, das ohnehin kaputtgesparte Gesundheitswesen endgültig unter das Kommando der Militärlogik zu zwingen und die Bevölkerung in einer Eskalation schutzlos zurückzulassen.
Dabei zeigt sich: Das Gesundheitswesen wurde über Jahrzehnte systematisch heruntergewirtschaftet. Klinikschließungen, Arbeitsverdichtung, Privatisierungen und die Missachtung der Belange von Pflege und Patienten haben tiefe Wunden hinterlassen. Nun soll genau dieses geschwächte System als Stütze einer aggressiven Außen- und Kriegspolitik dienen. Das bedeutet eine doppelte Gefahr: Erstens wird die Versorgung der Bevölkerung weiter ausgedünnt, zweitens wird die Medizin zur Reservearmee degradiert. Die Debatte um die Militarisierung des Gesundheitswesens legt offen, wie eng Aufrüstung und Sozialabbau miteinander verflochten sind.
Drehkreuz des Bündnisses: Der neue Auftrag an Kliniken und Praxen
Seit 2024/25 häufen sich die Ansagen aus Behörden, Berufsverbänden und Bundeswehr, wonach künftig Krisen, „hybride Angriffe“ und der „Bündnis- sowie Landesverteidigungsfall“ in allen Maßnahmen des Gesundheitssystems mitzudenken seien. Die Forderungen zielen auf Reserven, Befehlsketten und eine „funktionale Ausrichtung“ der zivilen Medizin an militärischen Bedürfnissen. Die Bundesärztekammer und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe drängen darauf, dass jede Klinik künftig über konkrete Kriegseinsatzpläne verfügt.
Das Herzstück dieser Agenda ist ein neues Gesundheitssicherstellungsgesetz. Es soll Zuständigkeiten verschieben, Personal dienstverpflichten, Kliniken priorisiert für Verwundete aus militärischen Operationen öffnen und die Behandlung nach militärischer Triage ordnen. Aus dem Ausnahmezustand würde so ein Dauerzustand – und aus der Heilkunst eine Hilfstruppe des Aufmarsches. Die Sprache der Planer ist verräterisch: „Resilienz“ bedeutet in Wahrheit nicht Stärkung der Versorgung, sondern ihre Anpassung an militärische Zwecke. „Vorsorge“ heißt in dieser Logik nicht Prävention von Krankheit, sondern Vorbereitung auf Massenverwundungen.
Realität der Stationen: Schließungen, Personalmangel, Bettenabbau
Während Planer von „Resilienz“ und „MANV“-Szenarien schwärmen, bricht die Grundversorgung weg: Klinikschließungen, zusammengestrichene Abteilungen, lange Wartezeiten, fehlende Pflegekräfte. Wer die Krankenhäuser der letzten Jahre kennt, weiß: Da ist nichts übrig, was man „kriegsfest“ machen könnte – außer der Bevölkerung das Restangebot zu nehmen.
Genau darin besteht das Kalkül: Im Ernstfall sollen die zivilen Häuser die Hauptlast tragen, weil die Bundeswehrkrankenhäuser von ihrer Kapazität und ihrem Personalansatz her nicht im Ansatz ausreichen. Ausgerechnet das zivile System, das man seit Jahrzehnten „schlank“ rechnet, soll nun als Reservearmee der Medizin herhalten. Zugleich wird die Notfallversorgung der Bevölkerung weiter geschwächt: Schon heute müssen Patientinnen und Patienten stundenlang in überfüllten Notaufnahmen warten, während Hebammen und Pflegekräfte sich in den Krankenhäusern zu Tode schuften.
Was militärische Triage bedeutet – und für wen
Militärische Triage folgt nicht dem Maßstab der individuellen Heilung, sondern der Einsatzverwendbarkeit. Behandelt wird vorrangig, wessen Rückkehr „in den Einsatz“ wahrscheinlich ist. Für Zivilisten bedeutet das: Wer sich nicht in diese Logik fügt, rutscht in der Priorität nach unten. Der Mensch wird nach Nützlichkeit sortiert.
Hinzu kommen strukturelle Risiken: Angriffe auf Infrastruktur, Massenfluchtbewegungen, Zusammenbruch von Versorgungsketten. Die Folge ist eine „Ressourcenmangellage“, wie es die Fachsprache verharmlosend nennt. Übersetzt: Viele bleiben ohne Hilfe. Wer keinen Platz findet, muss sich selbst helfen – in Kellern, Turnhallen, überfüllten Notaufnahmen. Das ist nichts anderes als die bewusste Inkaufnahme von massenhaftem Leid der Zivilbevölkerung. Besonders gefährdet sind chronisch Kranke, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Sie gelten im Kriegskalkül als „nicht einsatzfähig“ und fallen in der Priorisierung zurück.
Historische Hintergründe: Notstand als Methode
Die Pläne der Gegenwart haben Vorgänger. In den 1968 durchgesetzten Notstandsgesetzen etablierte die Bonner Republik die rechtlichen Hebel, um im Spannungs- oder Bündnisfall das Zivile dem Militärischen unterzuordnen. Anfang der 1980er Jahre versuchte ein erster Entwurf eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes, Personal und Einrichtungen der zivilen Medizin militärisch zu kommandieren. Damals scheiterte das Vorhaben am Widerstand kritischer Ärzte und an gesellschaftlicher Empörung.
Heute wird die alte Idee unter neuen Vorzeichen reaktiviert. Wer die Akten liest, erkennt die Kontinuität: „Gesamtverteidigung“ bedeutet stets den Zugriff des Staates auf Arbeit, Wissen, Räume und Zeit der Bevölkerung – modern verpackt als „Resilienz“ und „Schutz“. Die historische Linie zeigt: Notstandsgesetze und Militarisierung gehören zusammen. Sie sind das Werkzeug, mit dem der Staat seine Bevölkerung im Ernstfall zur Kriegsökonomie zwingt.
Ökonomische Triebkräfte: Kriegshaushalt statt Gesundheitsfonds
Der Umbau ist kein Naturereignis, sondern Folge politischer Prioritäten. Während die Gesundheitsbudgets gedrückt, Pflegeberufe entwertet und kommunale Kliniken privatisiert wurden, explodieren die Aufrüstungs- und Kriegsbudgets. Die gleiche Hand, die den Stationen das Personal nimmt, verteilt Milliarden an Rüstungs- und Logistikkonzerne. „Resilienz“ heißt in dieser Sprache: die Kassen leeren, wenn es um menschenwürdige Versorgung geht, und sie füllen, wenn es um Waffen, Transporte, Kasernen, Sanitätsmaterial für Kriegseinsätze geht.
Dahinter stehen knallharte wirtschaftliche Interessen. Konzerne wittern Profite in der Logistik, bei der Lieferung von Sanitätsmaterial, in der Digitalisierung militärisch gesteuerter Gesundheitsnetze. Private Beratungsfirmen erhalten millionenschwere Verträge, um „Szenarien“ durchzuspielen, während kommunale Kliniken Insolvenz anmelden müssen. Das ist Klassenpolitik mit anderen Mitteln: der Abbau sozialer Infrastruktur für die Vielen und der Ausbau von Profitmöglichkeiten für die Wenigen.
Friedenspolitik statt Kriegsvorsorge: Was wirklich schützt
Wer die Bevölkerung schützen will, muss das Gegenteil der Militarisierung tun. Erstens: den flächendeckenden Wiederaufbau der zivilen Versorgung – wohnortnahe Kliniken, starke Grundversorgung, ausreichend Personal mit guter Bezahlung und verlässlichen Arbeitszeiten. Zweitens: Entschärfung der internationalen Lage, Abbau der Eskalationsspiralen, Ende der Stellvertreterkriege, Dialog statt Aufmarsch. Drittens: Katastrophenschutz, der Katastrophen verhindert, statt sie „bewältigen“ zu wollen – sichere Energie- und Wasserinfrastruktur, redundante Netze, Vorräte, zivile Schutzräume, Ausbildung der Bevölkerung in Erster Hilfe, ohne Militärkommando.
Ein friedliches, starkes Gesundheitssystem muss sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, nicht an der Kriegslogik. Das heißt: Gesundheitsversorgung als öffentliche Aufgabe, die sich jeder Profitlogik entzieht, statt als Anhängsel von Militärhaushalten und Privatinvestoren.
Internationale Dimension: Von der Frontlogik zur Nachbarschaftsmedizin
Das Bestellen ziviler Medizin unter Kriegslogik ist eine importierte Doktrin. Sie stammt aus Bündnisschemata, die Deutschland zum Hinterland laufender und geplanter Kriege machen. Eine Friedensordnung in Europa gelingt nur gegen diese Logik – durch Rückkehr zur Diplomatie, Anerkennung legitimer Sicherheitsinteressen aller Seiten und Aufbau wirtschaftlicher Zusammenarbeit statt Sanktionsregimen. Die Orientierung an Kriegsvorsorge spiegelt auch den Druck der NATO wider, die alle Mitglieder in den „Bündnisfall“ einbinden will.
Dort, wo Entspannung statt Aufrüstung versucht wird, sinkt der Druck auf die Zivilgesellschaft, ihre Krankenhäuser in Lazarette zu verwandeln. Ein Europa der Kooperation braucht Intensivstationen für Kranke, nicht für Feldzüge. Das zeigt auch die internationale Erfahrung: Länder, die auf Friedenspolitik setzen, haben bessere Gesundheitsindikatoren, während Länder im permanenten Kriegshaushalt ihre Zivilbevölkerung verelenden lassen.
Stimmen der Vernunft – und ihre Ausblendung
Es gibt Widerspruch. Kritische Mediziner warnen seit Jahrzehnten: Gegen moderne Kriegsszenarien kann die zivile Medizin keine „sinnvolle Hilfe“ leisten, schon gar nicht gegen atomare Eskalation. Die Illusion der Beherrschbarkeit ist gefährlich; sie lullt die Gesellschaft ein und verhindert die einzig wirksame Prävention: Kriege gar nicht erst zuzulassen. Dass solche Gegenanträge in den Gremien nicht einmal mehr zur Abstimmung kommen, zeigt, wie eng der Korridor der erlaubten Debatte geworden ist. Wer eine andere Stimme erhebt, läuft Gefahr, aus Gremien ausgeschlossen oder diffamiert zu werden.
Dabei sind die Argumente klar: Zivile Medizin kann Krieg nicht „bewältigen“. Jeder Versuch, sie in diese Richtung zu pressen, führt in Katastrophen. Die verdrängten Stimmen mahnen, dass wirkliche Sicherheit nur durch Frieden entsteht.
Was die Bevölkerung erwartet, wenn der Kriegsplan Realität wird
Die Studienlage zu Verletzungsmustern in modernen Kriegen ist eindeutig: Explosions- und Crush-Traumen, Verbrennungen, Kopf- und Thoraxverletzungen dominieren. Schutzräume reichen vorne und hinten nicht. Wer nicht zufällig in die wenigen Bunkerplätze kommt, steht im Ernstfall vor der Wahl zwischen improvisiertem Selbstschutz und überfüllten Notaufnahmen. In diesem Bild ist der Zivilist ein nachrangiger Faktor.
Die nüchterne Schlussfolgerung lautet: Je mehr die zivile Medizin an Kriegsszenarien ausgerichtet wird, desto weniger bleibt im Alltag für chronisch Kranke, Schwangere, Kinder, ältere Menschen übrig. Der Umbau verengt die Versorgung jetzt – lange bevor der Ernstfall überhaupt eintritt. Ein Gesundheitssystem, das auf Kriegslogik getrimmt wird, verliert schon in Friedenszeiten seine Fähigkeit, den Alltag zu bewältigen. Die Militarisierung bedeutet also nicht „Mehr Sicherheit“, sondern das Gegenteil.
Widerstand von links: Bündnisse, die tragen
Nötig ist ein gesellschaftliches Bündnis, das die Unterordnung der Medizin unter Kriegsinteressen zurückweist: Beschäftigte im Gesundheitswesen, Patienteninitiativen, Gewerkschafter, Friedensgruppen, Kommunalpolitiker, Wissenschaftler. Konkrete Forderungen können sofort Wirkung entfalten:
* Stopp aller Gesetzesvorhaben, die Dienstverpflichtungen, Beschlagnahmen oder militärische Triage in der Zivilmedizin verankern.
* Moratorium für Klinikschließungen, Rückabwicklung von Privatisierungen, Investitionsprogramme für Personal, Pflege, Geburtshilfe, Notaufnahmen.
* Transparenzpflichten: Jede „Sicherstellungs“-Planung ist öffentlich zu machen; keine Geheimverträge zwischen Kliniken, Rüstungslogistik und Militär.
* Kommunale Schutzpläne ohne Militärunterstellung: Zivile Schutzräume, dezentrale Notfallpunkte, Vorratshaltung für Medikamente und Blutkonserven.
* Außenpolitische Wende: Schluss mit Eskalationspolitik, Initiative für Waffenstillstände, Verhandlungsrahmen, Wiederaufbauprogramme.
Widerstand braucht Breite. Beschäftigte im Gesundheitswesen können die Stimme erheben, Gewerkschaften den Schulterschluss mit Friedensinitiativen suchen, Patientenverbände den Alltagsschaden benennen. Eine Allianz dieser Kräfte kann dem Militarisierungsprojekt die Legitimität entziehen.
Wirtschaftliche Interessen klar benennen
„Sicherheit“ ist zur Verkaufsformel geworden. Dahinter stehen Verträge für Großlogistik, Sanitätsmaterial, IT-Überwachung, Bautrupps, Beratungsnetze. Die Profiteure des Aufrüstens stehen bereit, während Pfleger und Ärzte fehlen. Jeder Euro, der in militärische „Resilienz“ fließt, fehlt doppelt: im Normalbetrieb heute und im Krisenfall morgen.
Eine demokratische Gesellschaft darf nicht zulassen, dass die öffentliche Gesundheit zum Anhängsel militärischer Planspiele verkommt. Wer das Gemeinwesen schützen will, schützt zuerst die, die es am dringendsten brauchen: Kranke, Alte, Kinder, Menschen mit Behinderung – nicht Marschtabellen und Kriegslogistik. Der Weg zu echter Sicherheit führt über soziale Gerechtigkeit, über gerechte Verteilung von Ressourcen, über Frieden. Alles andere ist Täuschung.
Historische Lehre: 1981 – 2025
Als Anfang der 1980er Jahre die Pläne zur militärischen Überformung der Medizin aufkamen, entstand eine breite Gegenbewegung. Flugblätter, Klinikkonferenzen, Beschlüsse von Ärztegremien: Die Botschaft war einfach und wahr – im Kriegsfall kann die Zivilmedizin nicht helfen, sie wird selbst Opfer. Diese Wahrheit gilt unverändert. Wer sie heute ausspricht, handelt im Interesse der Mehrheit. Die Lehre aus 1981 lautet: Öffentlichkeit herstellen, Widerspruch organisieren, den Ausnahmezustand nicht zur Normalität werden lassen.
Heilen statt herrschen
Die Aufgabe der Medizin ist die Wiederherstellung der Gesundheit, nicht die Kriegstauglichkeit des Staats. Ein Gesundheitswesen, das heilt, braucht Frieden. Es braucht Planung, Personal, Zeit – und die Gewissheit, dass keine Generalsuniform darüber entscheidet, wem geholfen wird. Deshalb gilt: Keine Militarisierung der zivilen Medizin. Stattdessen eine Politik des Ausgleichs, der Verständigung, des Wiederaufbaus – damit das Skalpell keinem General mehr salutieren muss.


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