Ferdinand Lassalle: Vater des Reformismus, Feind der Revolution
200 Jahre nach seiner Geburt: Warum Lassalle die Arbeiterbewegung auf einen Irrweg führte – und was wir heute daraus lernen müssen
Der gefeierte Gründervater – ein kritischer Rückblick
Ferdinand Lassalle – in den Geschichtsbüchern der SPD als Gründervater der Arbeiterbewegung gefeiert, mit Straßennamen, Gedenktafeln und Lobgedichten überhäuft. Doch was verbirgt sich hinter der Legende? Zum 200. Geburtstag des Mannes, der den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) gründete, ist es Zeit für eine schonungslose Bilanz.
»Fünfzig Jahre nach meinem Tode wird man anders denken über diese gewaltige und merkwürdige Kulturbewegung, die ich unter Ihren Augen vollbringe«, hatte Lassalle selbstbewusst während eines Prozesses gegen ihn erklärt. Doch was bleibt von dieser „Kulturbewegung“? Und war sie wirklich im Sinne der Emanzipation der Arbeiterklasse gedacht – oder doch eher ein Weg in ihre politische Entmündigung?
Lassalle war kein Revolutionär im Geiste der Pariser Kommune. Er war ein früher Wegbereiter des deutschen Reformismus – und damit Mitverantwortlicher für eine folgenschwere Fehlentwicklung der Arbeiterbewegung. Anstatt den Staat als Instrument der herrschenden Klasse zu erkennen, vertraute er auf dessen angebliche Neutralität. Anstatt zur Selbstermächtigung der Arbeiterklasse aufzurufen, baute er auf staatliche Unterstützung und Fürsorge. Sein Ziel war nicht die Diktatur des Proletariats, sondern eine „Sozialpolitik von oben“ – abgesegnet von einem „wohlwollenden“ Obrigkeitsstaat.
Dabei war seine Wirkung keineswegs begrenzt auf seine Lebenszeit. Der von ihm begründete Lassalleanismus hat sich tief in die deutsche Arbeiterbewegung eingegraben. Bis heute wird seine Staatsgläubigkeit, seine Kompromissbereitschaft und seine ideologische Nähe zur nationalen Idee von manchen als „realistische Politik“ verklärt. Doch realistischer war daran nur die Akzeptanz der bestehenden Machtverhältnisse, nicht deren Überwindung.
Die Nachwirkungen seiner Ideen sind bis in unsere Zeit spürbar. Immer dann, wenn sich Parteien und Bewegungen auf die Rolle des Staates als soziale Instanz verlassen, wird ein direkter Bezug zu Lassalle sichtbar. Seine Vorstellung, dass soziale Fortschritte nicht durch kämpferische Mobilisierung, sondern durch staatliche Fürsorge erreichbar seien, hat eine politische Kultur der Passivität gefördert. Dies hat ganze Generationen von Aktivisten entmutigt, ihre Interessen in eigener Regie durchzusetzen.
Zugleich ist es bemerkenswert, wie tief sich Lassalles Denken in die organisatorische Struktur der Arbeiterparteien eingeschrieben hat. Der Vorrang des Apparats, das Vertrauen auf Parlamentarismus und das Streben nach Anerkennung durch die herrschende Ordnung – all das sind Merkmale, die aus seiner Schule stammen. Wer heute ernsthaft eine kämpferische Bewegung aufbauen will, muss daher auch mit dem historischen Erbe Lassalles brechen und sich auf die revolutionäre Selbsttätigkeit der Massen besinnen.
Lassalle ist damit nicht bloß eine historische Figur, sondern ein Symbol für eine ganze Strategie – eine Strategie der Anpassung, der Stellvertretung und der Entpolitisierung. Sie zu entlarven und zu überwinden, ist die Voraussetzung für jede ernsthafte Erneuerung der Linken.
Kooperation mit der Reaktion
Dieser Staat war kein anderer als das monarchistische Preußen. Lassalles Bereitschaft, mit diesem Staat zu kooperieren, ist keine Nebensache, sondern der Kern seines politischen Denkens. Er träumte von staatlich geförderten Produktionsgenossenschaften, von einem Sozialismus per Erlass. Sein Hochverratsprozess war keine Folge eines revolutionären Umsturzes, sondern Ergebnis eines taktischen Spiels, das auf Einfluss im bestehenden System setzte. Für ihn bedeutete Politik nicht den Bruch mit der bestehenden Ordnung, sondern eine Art diplomatischer Balanceakt innerhalb ihrer Spielregeln.
Dass Lassalle die Zusammenarbeit mit dem reaktionären Bismarck-Regime nicht scheute, ist historisch belegt. Im März 1863 etwa ließ er über seinen Vertrauten Hermann Wagener, einen konservativen Publizisten und späteren Sozialpolitiker, Kontakt zu Bismarck herstellen. Ziel war es, ein Bündnis zwischen der Arbeiterbewegung und der Monarchie gegen das liberale Bürgertum zu sondieren. In einem Brief an Bismarck ließ Lassalle sinngemäß ausrichten, man habe ein gemeinsames Interesse an der Zurückdrängung des politischen Liberalismus – der wahre Gegner sei nicht der Adel, sondern das Kapital.
Seine Theorie vom „ehernen Lohngesetz“ diente nicht etwa der Mobilisierung der Arbeiterklasse, sondern sollte im Gegenteil beweisen, dass Gewerkschaften und Streiks ohnehin sinnlos seien – dass nur der Staat für soziale Gerechtigkeit sorgen könne. Das war keine marxistische Analyse der Klassengesellschaft, sondern ein plumper Versuch, dem Proletariat jede revolutionäre Perspektive zu rauben. In der Konsequenz bedeutete dies eine strategische Entmündigung der Klasse, die durch Selbstorganisation durchaus fähig gewesen wäre, ihre Interessen eigenständig durchzusetzen.
Diese Haltung gipfelte in der Hoffnung auf einen „sozialen König“, auf eine aufgeklärte Obrigkeit, die von oben herab das Elend der Massen mildern würde. Dabei unterschätzte Lassalle völlig die Interessenlage des herrschenden Adels und der Bourgeoisie. Die Klassenherrschaft lässt sich nicht durch Appelle an das Gewissen der Herrschenden aushebeln. Doch genau darin lag Lassalles Hoffnung: auf Gnade statt auf Kampf, auf Ordnung statt Umwälzung. Damit wurde der Grundstein gelegt für jene sozialdemokratische Praxis, die später mit Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Standortlogik die kämpferischen Traditionen der Arbeiterklasse systematisch untergrub. Die Vorstellung, man könne den Kapitalismus zähmen, anstatt ihn zu stürzen, ist der lange Schatten Lassalles – ein Schatten, der bis heute über den Reihen der sogenannten Linken liegt.
Noch folgenreicher war, dass Lassalles Staatsgläubigkeit nicht nur theoretisch wirkte, sondern praktisch in der Parteikultur wurzelte. Der Ruf nach staatlicher Hilfe wurde zum Grundton der politischen Strategie. Statt revolutionärer Organisierung traten Delegationen, statt Streiks parlamentarische Appelle. Diese politische Mentalität, die Verantwortung auslagert und auf Besserung von oben hofft, lebt bis heute fort – und steht im Widerspruch zur eigentlichen Kraft der Arbeiterklasse: ihrer Fähigkeit, durch kollektive Aktion Geschichte zu schreiben.
Marx gegen Lassalle
Karl Marx durchschaute das früh. Für ihn war Lassalles Politik eine Kapitulation vor der bürgerlichen Ordnung. Marx schrieb nicht umsonst, dass Lassalle nur ein „Epigone“ sei, ein Nachahmer ohne Substanz. Wo Marx vom Klassenkampf sprach, redete Lassalle vom „Volksstaat“. Wo Marx auf den Aufbau einer internationalen Bewegung setzte, sprach Lassalle die Sprache des deutschen Nationalismus.
Marx lehnte nicht nur Lassalles Inhalte ab, sondern auch dessen politische Methode: das Vertrauen auf Einzelpersonen, die Abkehr von kollektiver Organisierung und das ständige Suchen nach einem Kompromiss mit den bestehenden Machtstrukturen. Für Marx war klar, dass jede Arbeiterbewegung, die sich auf einen Deal mit dem Staat einlässt, sich der Konterrevolution ausliefert. Die Geschichte sollte ihm recht geben.
Zudem war Marx entsetzt über Lassalles Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit reaktionären Kräften – eine Haltung, die Marx für gefährlich, ja verräterisch hielt. Nicht umsonst sprach er von Lassalle als einem Mann, der den Obrigkeitsstaat in den Reihen der Arbeiterbewegung salonfähig machen wollte. In den Konflikten mit den preußischen Behörden zeigte Lassalle nie die Konsequenz eines Revolutionärs, sondern die Berechnung eines politischen Taktikers, der auf persönliche Wirkung und bürgerliche Anerkennung aus war. Es ging ihm um Positionen, nicht um Perspektiven, um Anerkennung statt Aufstand.
Diese Linie wurde später von Eduard Bernstein fortgesetzt – und trug die SPD schnurstracks in den Abgrund der Kriegspolitik. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 war kein Betriebsunfall, sondern das Ergebnis einer lange vorbereiteten Anpassung. Schon zuvor war in der Partei die revolutionäre Sprache leiser geworden, ersetzt durch Forderungen nach Mitbestimmung und Reform. Die ursprüngliche Idee eines Bruchs mit dem Kapitalismus wurde zugunsten einer Einbettung in das bürgerliche System geopfert.
Gegen diese Entwicklung stellte sich Rosa Luxemburg mit aller Schärfe. In ihrer Schrift „Sozialreform oder Revolution?“ entlarvte sie Bernsteins Position als theoretisch schwach und praktisch gefährlich. Sie warnte davor, den Sozialismus auf einen schrittweisen Umbau im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu reduzieren. Für Luxemburg war klar: Ohne revolutionäre Perspektive verliert die Arbeiterbewegung ihre Richtung, ohne Klassenkampf ihre Kraft.
Wer den Staat als Verbündeten sieht, wer glaubt, der Sozialismus könne durch Gesetz und Verwaltung eingeführt werden, endet unweigerlich im Schulterschluss mit Kapital und Militär. Es war genau dieses Denken, das 1914 die Katastrophe ermöglichte – und das bis heute wirkt. In jeder Unterstützung für Kriege „im Namen der Demokratie“, in jeder Sozialpolitik, die Unternehmen subventioniert statt sie zu enteignen, lebt die alte Hoffnung Lassalles fort – eine Hoffnung, die immer wieder zur Enttäuschung wird.
Staat und Sozialismus – ein Widerspruch
Die Lehre daraus? Sozialismus und Staat – das sind Gegensätze. Der bürgerliche Staat ist nicht reformierbar, sondern muss überwunden werden. Nicht durch Petitionen, Programme oder Ministerposten, sondern durch den organisierten Kampf der Arbeiterklasse. Selbstständig, internationalistisch, revolutionär. Nur so kann eine Gesellschaft aufgebaut werden, die den Bedürfnissen der Mehrheit dient – nicht den Profiten einer Minderheit.
Die sozialistische Bewegung muss sich ihrer Ursprünge erinnern: an den Internationalismus, an die Notwendigkeit der Klassenkonfrontation, an den Primat des Gemeineigentums und der direkten Demokratie in den Händen der Produzenten. Jede Hinwendung zur Staatsmacht bedeutet Abkehr von dieser Tradition. Die historische Erfahrung hat gezeigt: Wo sich Sozialisten dem Staat annähern, gehen sie darin unter oder verraten ihre Sache. Statt revolutionärer Umgestaltung des Bestehenden gibt es bloß Verwaltung der kapitalistischen Misere, statt kollektiver Selbstermächtigung nur Repräsentation ohne Rückkopplung zur Basis.
Heute, im Jahr 2025, ist der Einfluss des lassalleanischen Denkens nicht verschwunden – im Gegenteil. Teile der SPD, aber auch der sogenannten Linkspartei, träumen noch immer von einer „linken Regierung“, von einem „starken Staat“, der soziale Gerechtigkeit herbeizaubern soll. Manche rufen gar zur Aufrüstung und Landesverteidigung auf – als hätte man aus der Geschichte nichts gelernt. Friedenspolitik wird zur Standortfrage. Marx wird totgeschwiegen, Lassalle folkloristisch gefeiert. Die Widersprüche dieser Politik werden dabei bewusst ausgeblendet: Wer das Gewaltmonopol des Staates als sozialistischen Hebel begreift, akzeptiert auch dessen Klassencharakter – und macht sich damit zum Hilfsorgan der herrschenden Ordnung.
In der Praxis heißt das: Sozialpolitik als Krisenverwaltung, Klimapolitik als Subvention der Industrie, Außenpolitik als Bündnistreue zur NATO. Der Staat erscheint nicht mehr als Gegner der Arbeiterinteressen, sondern als allmächtiger Kümmerer – solange er dem Kapital nützt. Die Linke wird dadurch nicht nur ungefährlich, sondern Teil des Problems. Sie verliert ihre Unabhängigkeit, ihren Klassenstandpunkt, ihren revolutionären Anspruch – und am Ende auch ihre Glaubwürdigkeit. Der Preis dieser Entwicklung ist hoch: politische Orientierungslosigkeit, strategische Schwäche und der Verlust jedes Gegenentwurfs zur bestehenden Ordnung.
Für eine neue revolutionäre Linke
Dabei brauchen wir keinen Reformismus, der uns in Kriege und Sozialpartnerschaft führt. Wir brauchen keine Staatsgläubigkeit, die uns entmündigt. Was wir brauchen, ist eine neue revolutionäre Linke, die sich nicht am Staat orientiert, sondern an den Interessen der Unterdrückten. Die nicht auf Vermittlung hofft, sondern auf Klassenkampf setzt. Die nicht auf Lassalle, sondern auf Marx hört.
Diese Linke muss international denken und lokal handeln. Sie muss die Organisation der Produktionsmittel in Arbeiterhand stellen. Sie muss erkennen, dass der Feind nicht in fernen Ländern sitzt, sondern im eigenen Land: in den Konzernzentralen, in den Kabinetten, in den Schaltstellen der Macht. Nur durch eigenständige Organisation, Aufklärung und Mobilisierung kann sie ihre Kraft entfalten. Sie darf sich nicht von der Logik der Verwaltung vereinnahmen lassen, sondern muss dem revolutionären Prinzip der Selbstbestimmung folgen. Dazu braucht es Strukturen, die demokratisch und kampffähig zugleich sind – Betriebsgruppen, Stadtteilkomitees, antikapitalistische Bündnisse. Eine solche Linke organisiert sich nicht um Wahlen, sondern um Bedürfnisse; nicht um Sitze in Parlamenten, sondern um Einfluss auf der Straße und in den Betrieben.
Diese Linke darf sich nicht durch Rücksichtnahme auf Regierungsfähigkeit lähmen lassen. Sie muss unbequem sein, konfrontativ, widerständig. Denn nur so kann sie Alternativen glaubwürdig vertreten. Die Voraussetzung dafür ist eine radikale Klarheit in der Analyse und eine unbestechliche Solidarität mit den Ausgebeuteten und Marginalisierten dieser Welt. Sie muss sich mit dem Weltmarkt ebenso auseinandersetzen wie mit dem Mietenwahnsinn im Viertel. Ihr Ziel ist nicht die Verwaltung des Mangels, sondern seine Überwindung.
Ein solcher Anspruch findet sich heute in Deutschland kaum noch bei den parlamentarischen Parteien. Doch eine Kraft, die sich diesem Erbe des revolutionären Marxismus weiter verpflichtet fühlt, ist die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Sie lehnt die Beteiligung an kapitalistischer Regierungsverantwortung ab, steht für konsequente Friedenspolitik und hält am Ziel einer sozialistischen Gesellschaft fest. Auch wenn sie medial totgeschwiegen wird und in der Öffentlichkeit oft marginalisiert erscheint, verkörpert sie ein wichtiges politisches Gegengewicht zur reformistischen Entkernung der Linken.
200 Jahre nach seiner Geburt sollten wir Lassalle nicht feiern – wir sollten ihn endlich hinter uns lassen. Nicht im Hass, sondern in Klarheit. Nicht mit Denkmälern, sondern mit einer revolutionären Alternative, die endlich wieder den Namen verdient, unter dem so viele Generationen gekämpft haben: Sozialismus – von unten, nicht von oben.