AUF DEN SOMMER DER ERNIEDRIGUNG
FOLGT EIN HEIßER HERBST
Ein Sommer der Erniedrigung: Die Masken sind gefallen
Der diesjährige Sommer hat die Widersprüche der politischen Ordnung wie unter einer Lupe sichtbar gemacht. Unter dem Banner wohlklingender Worte – „Verantwortung“, „Werte“, „Sicherheit“ – wurden Waffenexporte erhöht, Sanktionen verschärft und ein Krisenregime verallgemeinert, dessen Kosten die Mehrheit schultern soll. In den Kommunen schließen Bäder, in Kliniken werden Stationen zusammengelegt. Dieselben Minister, die von „Solidarität“ sprechen, erklären, der Sozialstaat müsse „an die Realität angepasst“ werden. Die Realität, die hier zugrunde liegt, ist die der Aufrüstungshaushalte, der Energieverteuerung und der staatlich abgesicherten Profite.
Die Erniedrigung ist doppelt: materiell – mit steigenden Preisen und schrumpfenden Leistungen; moralisch – mit Diffamierung jeder Friedensforderung. Wer einen Waffenstillstand verlangt, wird ausgegrenzt; wer Diplomatie anmahnt, gilt als „naiv“; wer die sozialen Folgen der Sanktionspolitik benennt, wird des „Egoismus“ bezichtigt. Die Botschaft von oben lautet: Schweigt, zahlt und friert – und seid dankbar, auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Dieser Herbst muss die Prioritäten umkehren: Frieden vor Rüstung, Löhne vor Profiten, Gemeinwohl vor Konzernmacht.
Kriegspolitik gegen die Bevölkerung
Krieg und Austerität sind zwei Seiten derselben Medaille. Embargos und geopolitische Eskalation treiben die Energiepreise; die Folgekosten werden als Naturgesetz an die Haushalte weitergereicht. Zurückhaltung bei Löhnen und Renten wird als „Verantwortung“ verkauft, während Sondervermögen und Rüstungspakete im Rekordtempo durchgewunken werden. Die Regeln sind stets gleich: Die Bevölkerung verzichtet, Konzerne erhalten Aufträge, Garantien, Abschreibungen und Steuervergünstigungen. Was als Sicherheitsfrage etikettiert wird, ist ein groß angelegtes Umverteilungsprogramm von unten nach oben.
Hinter dieser Politik stehen klare Interessen. Rüstungskonzerne verzeichnen volle Auftragsbücher auf Jahre hinaus. Energie- und Rohstoffhändler profitieren von künstlicher Verknappung, Logistikriesen von Umwegen in den Lieferketten. Finanzakteure verdienen an neu aufgelegten Schuldtöpfen, deren Bedienung die öffentlichen Haushalte auf Jahrzehnte belastet. Solange diese Kreise die Richtungsentscheidungen prägen, wird jeder Vorschlag für Verhandlungen sabotiert, jede diplomatische Initiative lächerlich gemacht und jeder soziale Kompromiss mit Verweis auf „Sicherheit“ kassiert.
Wer zahlt? Arbeiter, Erwerbslose, Mieter, Rentner
Die Kassen sind angeblich leer – allerdings nur dort, wo die Mehrheit lebt. Beim Bürgergeld werden Prozentpunkte jongliert, als ginge es um eine Rechenübung und nicht um Kühlschränke, die leer bleiben, Heizungen, die kalt bleiben, Rechnungen, die nicht bezahlt werden können. Währenddessen bindet der Staat Milliarden für militärische Beschaffungen, Rücklagen für Einsatzfähigkeit und die Infrastruktur der Kriegswirtschaft. Es handelt sich nicht um Sachzwänge, sondern um politische Entscheidungen, die Prioritäten offenlegen. Würde man die gleichen Maßstäbe auf die Rüstung anwenden wie auf die Daseinsvorsorge, verschwänden viele „Sachzwänge“ sofort.
Die Folgen sind konkret: Mieten fressen Einkommen auf, Strom- und Gasabschläge belasten selbst Durchschnittsverdiener, Lebensmittelpreise drücken am Monatsende die Restkasse auf Null. In den Krankenhäusern fehlt Personal, Wartezeiten wachsen, im Nahverkehr werden Takte ausgedünnt. Verarmung ist kein abstrakter Trend, sondern Alltag vieler Familien, Alleinerziehender, Rentner und Azubis – und sie wird durch Kriegsökonomie verschärft.
Die „Koalition der Willigen“ – und die Grenzen der Macht
Wenn in europäischen Hauptstädten von „Friedenstruppen“, „Sicherheitszonen“ oder ähnlichen Euphemismen die Rede ist, dann vor allem deshalb, weil man weiß: Eine offene Bodenbeteiligung ist innenpolitisch nicht durchsetzbar. Die Bevölkerungen würden das nicht hinnehmen. Also wird mit Worten laviert, Verantwortung zerstreut und die Hauptlast an den transatlantischen Partner delegiert. Doch die Rechnung geht nicht auf. Jeder weitere Eskalationsschritt erhöht die Gefahr eines Flächenbrands – außenpolitisch, militärisch und in der sozialen Stabilität der eigenen Länder.
Friedenspolitik ist keine Schwäche
Der Ruf nach einem sofortigen Waffenstillstand, nach Neutralitätsgarantien, Truppenrückzügen und Gesprächen ist Ausdruck von Vernunft, nicht von Nachgiebigkeit. Frieden ist die Voraussetzung jeder sozialen Erholung. Ein Ende der Eskalationsspirale würde Energiekosten normalisieren, Lieferketten stabilisieren und Investitionen in zivile Infrastruktur ermöglichen. Wer auf Verständigung setzt, handelt im Interesse der Bevölkerung. Europa wird nicht „verteidigt“, indem man es in einen Dauerkrisenmodus zwingt, sondern indem man es handlungsfähig macht: durch Diplomatie, wirtschaftliche Kooperation und kulturellen Austausch.
Die ökonomischen Interessen hinter der moralischen Pose
Die moralische Rhetorik – „Demokratie“, „Menschenrechte“, „regelbasierte Ordnung“ – verschleiert handfeste Interessen: Absatzmärkte, Rohstoffzugänge, geostrategische Korridore und die Kontrolle über Zahlungs- und Transportwege. Seit Jahren wird die industrielle Verflechtung mit dem Osten systematisch beschädigt. Teure, unsichere und politisch abhängige Alternativen ersetzen verlässliche Zulieferbeziehungen. Die Folgen sind Deindustrialisierungsdruck, Verlagerungen, Werksschließungen und Lohndruck. Das ist kein nostalgisches Lamento, sondern eine nüchterne Kostenrechnung: Ohne bezahlbare Energie und stabile Märkte bricht die Grundlage des industriellen Mittelstands. (Im Jahr 2025 steigt der Verteidigungsetat im Bundeshaushalt auf rund 62,4 Mrd. €; zusammen mit Mitteln aus dem Sondervermögen stehen der Bundeswehr über 86 Mrd. € zur Verfügung – Quelle: Bundesfinanzministerium, Bundestag hib, Bundesministerium der Verteidigung, 24.06.2025.) (Im Jahresdurchschnitt 2023 waren in 1 874 Krankenhäusern 476 924 Betten aufgestellt, das sind −0,7 % gegenüber 2022 – Quelle: Destatis, 27.09.2024.)
Wer die Liefer- und Preisbildungsketten nüchtern betrachtet, erkennt ein einfaches Muster. Energie verteuert sich durch Embargos, Transport wird durch Routenverlagerung kostspieliger, Vorprodukte werden knapp, Unternehmen sichern ihre Margen und geben Preise weiter. Gleichzeitig wird die Debatte auf Lohnzurückhaltung verengt, als ob nicht die Aufschläge in den Zwischenstufen die Teuerung treiben würden. (Im Jahr 2024 lag der durchschnittliche Day‑Ahead‑Großhandelsstrompreis bei 78,51 €/MWh, nach 95,18 €/MWh im Jahr 2023; das entspricht −17,5 % – Quelle: Bundesnetzagentur/SMARD, 03.01.2025.) (Am 4. September 2025 notierte der TTF‑Großhandel bei 32,57 €/MWh; rund −9 % gegenüber dem Vorjahr – Quelle: TradingEconomics/TTF‑Futures.) Die sogenannte „Wettbewerbsfähigkeit“ dient oft als Code, um Reallöhne zu drücken, Arbeitszeiten auszuweiten und Mitbestimmung auszuhebeln. Das Ergebnis sind Gewinne an der Spitze und Stagnation an der Basis.
Energie, Industrie und die Preis‑Lüge
Wie sich diese Interessen in unseren Rechnungen niederschlagen, zeigt die Energiefrage. Die Energieverteuerung wird gern als Naturgewalt dargestellt. In Wahrheit ist sie Ergebnis politischer Entscheidungen. LNG‑Umwege, Pipelineabbrüche, Versicherungsprämien für riskante Routen und Terminmarktspekulation schlagen auf jede Vorstufe der Produktion durch. Stattdessen könnte eine Grundversorgung zu gedeckelten Preisen für Haushalte und für die industrielle Grundlast festgeschrieben werden, finanziert durch Abschöpfung von Krisengewinnen und den Abbau rüstungsbedingter Mehrausgaben. Wo der Staat ohnehin Milliarden in Energiemärkte eingreift, kann er dies sozial ausrichten – mit klaren, transparenten Regeln statt windiger Ausnahmen für die Stärksten.
Eine aktive Industriepolitik kann auf Bahn, Maschinenbau, Bauwesen, Pflegeinfrastruktur und die kommunale Energiewende fokussieren. Öffentliche Investitionsfonds mit lokalen Wertschöpfungsketten, verbindlichen Ausbildungsquoten und Standortgarantien sichern Produktion und Know‑how. Die Alternative ist der schleichende Verlust industrieller Kerne – zuerst die Zulieferer, dann die Endfertigung, am Ende die Forschung. Wer sich dem verweigert, wird vom Weltmarkt getrieben, statt ihn mitzugestalten.
Fahrplan in drei Sätzen: Erstens wird ein bezahlbares Grundkontingent für Strom und Wärme für Haushalte und die industrielle Grundlast gesetzlich garantiert; darüber hinausgehender Verbrauch wird marktbasiert bepreist. Zweitens werden Krisen‑ und Übergewinne im Energie‑ und Rohstoffsektor befristet abgeschöpft, um Grundkontingent und kommunale Netze zu finanzieren. Drittens gelten für jede Subvention und jeden Energierabatt harte Auflagen: Beschäftigungssicherung, Standort‑ und Investitionsgarantien sowie Preisbindungen für Grundgüter – sonst Rückzahlung.
Deutschland zwischen Rüstungs‑ und Armutshaushalt
Die Gegensätze springen ins Auge: Rekordetats für Rüstung und „Sondervermögen“ auf der einen, Sparvorgaben bei Sozialausgaben auf der anderen Seite. Kommunen ächzen unter Investitionsstau, Schulen und Kitas fehlt Personal, die Bahn zerbröckelt, Krankenhäuser ringen ums Überleben. Gleichzeitig werden für energieintensive Großbetriebe Entlastungspakete geschnürt – oft ohne Gegenleistung in Form von Beschäftigungssicherung oder Standortgarantien. Der Staat tritt als Auftraggeber für Kriegswirtschaft auf, während er als Garantiemacht des sozialen Ausgleichs zurückweicht. Das Resultat ist ein rüstendes und zugleich verarmendes Land.
Eine alternative Haushaltspolitik ist möglich: Aufwüchse in der Rüstung streichen, Übergewinne abschöpfen, gezielt in Bahn, Gesundheit, Bildung und kommunale Energie investieren. Mit klaren sozialen Auflagen für Unternehmen, die Subventionen erhalten, und mit Preisbindungen für Grundkontingente an Strom und Wärme lässt sich der Lebensstandard stabilisieren, ohne die industrielle Basis zu zerstören. Eine solche Politik erfordert Mut gegen Lobbydruck – und Rückhalt durch gesellschaftlichen Widerstand.
Historische Hintergründe: Wenn die Basis sich bewegt
Europa hat Erfahrung mit „heißen Herbsten“. 1969 in Italien erzwangen Streikwellen in Metall‑ und Chemiebetrieben weitreichende Zugeständnisse, weil die Beschäftigten über Branchen‑ und Regionalgrenzen hinaus gemeinsam agierten. In Deutschland signalisierten die wilden Streiks Anfang der 1970er Jahre, dass Lohnzurückhaltung endet, wenn Preise davonlaufen und Rationalisierung Arbeitsplätze frisst. 2004 organisierten sich Montagsdemonstrationen gegen Hartz‑Kürzungen. Erfolgreich waren Bewegungen dort, wo sie breit, klassenbewusst und unabhängig von Regierungsparteien auftraten – wo die Verbindung von sozialer Frage und demokratischer Selbstbehauptung gelang.
Die Lehre ist aktuell. Wenn Betriebe, Mieterinitiativen, Erwerbslosenkreise und Friedensbündnisse gemeinsam handeln, verschiebt sich das Kräfteverhältnis. Regierungen geben nicht aus Einsicht nach, sondern weil gesellschaftliche Gegenmacht wächst. Ein heißer Herbst fällt nicht vom Himmel, er wird organisiert – mit Strukturen, die länger halten als eine Demonstration, und mit Zielen, die mehr sind als Stimmung.
Die Rolle der Gewerkschaften: Sozialpartnerschaft oder Klassenkampf
Gewerkschaften stehen an einem Scheideweg. Ein Teil der Führung hält an Sozialpartnerschaft fest, an runden Tischen, Appellen und der Hoffnung, mit „Vernunft“ bei Regierung und Konzernen Gehör zu finden. Doch Partnerschaft setzt Augenhöhe voraus. In einer Situation, in der Konzerne Rekordgewinne vorweisen, gleichzeitig aber unter dem Banner der „Wettbewerbsfähigkeit“ Reallöhne drücken und Standorte zur Disposition stellen, ist Augenhöhe Illusion. Viele Mitglieder erleben, wie Verlagerungen und Personalabbau mit öffentlichen Geldern flankiert werden, während Tarifabschlüsse von Preissteigerungen aufgefressen werden.
Es braucht eine erneuerte, kämpferische Strategie. Tarif‑ und Friedensforderungen müssen verknüpft werden: Kein Lohnabschluss ohne automatischen Inflationsausgleich; verbindliche Beschäftigungsgarantien während der Laufzeit öffentlicher Subventionen; Verbot betriebsbedingter Kündigungen in Unternehmen, die vom Staat entlastet werden; Energiepreisbremsen für Grundlasten in Produktion und Haushalt; echte Mitbestimmung bei Transformationsplänen. Politische Streiks sind dort notwendig, wo Eskalationspolitik Löhne, Mieten und Preise unmittelbar betrifft. Gewerkschaften sind nicht Standortmanager, sondern Interessenvertretungen der Beschäftigten.
Widerstand von links: Vom Appell zur Organisierung
Widerstand muss sozial, demokratisch und friedensorientiert sein. Das bedeutet, verstreute Initiativen zu verbinden: Mieter, die Nebenkostenexplosionen nicht akzeptieren; Pflegekräfte, die für Entlastung kämpfen; Bauern, die ruinöse Erzeugerpreise nicht länger tragen; Azubis, die sich Wohnungen nicht leisten können; Industriearbeiter, deren Werke zu „Kostenstandorten“ erklärt werden. Aus punktuellen Protesten werden Bündnisse, wenn sie sich koordinieren: Betriebsgruppen, die Erfahrungen austauschen; Solidaritätsfonds, die Streiks tragen; Nachbarschaftsräte, die kommunale Kämpfe bündeln; Medienprojekte, die Gegenöffentlichkeit herstellen.
Organisierung ist Arbeit, keine Pose. Sie braucht Orte, an denen man sich verlässlich trifft, Schulungen, die Wissen vermitteln, und Kampagnen, die konkrete Verbesserungen anpeilen. Wo Belegschaften erleben, dass Druck wirkt – etwa bei
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