Die Warheit über Syrien

Die komplexe politische und gesellschaftliche Dynamik Syriens bietet eine reichhaltige Grundlage für eine marxistische Analyse. Sie beleuchtet die Herrschaft der Assad-Familie im Kontext von Klassenkämpfen, geopolitischen Strategien und wirtschaftlichen Transformationen. Dieser Text richtet sich an fortgeschrittene Leser:innen und untersucht die tief verwurzelten Mechanismen, die Syriens Entwicklung geprägt haben.
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Die historischen Grundlagen des modernen Syriens
Syrien erlangte 1946 seine Unabhängigkeit von der französischen Mandatherrschaft, was den Beginn eines politisch turbulenten Kapitels markierte. Die ersten 24 Jahre der Unabhängigkeit waren von häufigen Putschen und Machtkämpfen geprägt, die aus der Fragmentierung der herrschenden Klassen und der Schwäche der nationalen Bourgeoisie resultierten. Diese Instabilität spiegelte die Unfähigkeit wider, eine kohärente nationale Ordnung zu schaffen, die den sozialen und ökonomischen Herausforderungen gerecht werden konnte. Gleichzeitig zeigte sie eine Abhängigkeit von kolonial geprägten Machtstrukturen und eine fehlende wirtschaftliche Diversifikation.
In dieser Phase stieg Hafez al-Assad, ein Offizier und späterer Präsident, durch die Reihen der Baath-Partei auf, einer politischen Bewegung mit sozialistischen und panarabischen Idealen. Die Baath-Partei versprach den Bruch mit kolonialen und feudalistischen Strukturen sowie die Umverteilung von Ressourcen. Der Putsch von 1970, mit dem Hafez al-Assad an die Macht gelangte, markierte einen Wendepunkt: eine Konsolidierung der Macht in einem autoritären Staat, der sich durch die zentrale Rolle des Militärs und eine streng kontrollierte politische Sphäre auszeichnete.
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Die Ära Hafez al-Assad: Konsolidierung und Widersprüche
Die Regierungszeit von Hafez al-Assad war durch eine Strategie der Stabilisierung geprägt, die autoritäre Mittel mit sozialstaatlichen Maßnahmen kombinierte. Der Aufbau eines zentralisierten Einparteiensystems erlaubte eine effektive Kontrolle über die Wirtschaft, die durch Verstaatlichung und Eigenproduktion gestärkt wurde. Syrien war bis 2011 schuldenfrei – ein bemerkenswertes Ergebnis angesichts der geopolitischen Spannungen in der Region.
Dennoch waren diese Errungenschaften nicht ohne Widersprüche. Während Bildung und Gesundheitsversorgung kostenlos bereitgestellt wurden, blieb die ländliche Bevölkerung marginalisiert. Eine neue Elite aus loyalen Funktionären und Militärs entstand, während unabhängige politische Organisationen unterdrückt wurden. Gewerkschaften und Medien wurden instrumentalisiert, wodurch kritische Diskurse und Mobilisierungen effektiv neutralisiert wurden. Gleichzeitig verstärkte die zentrale Rolle des Staates in der Wirtschaft eine ineffiziente Bürokratie, die Innovation und private Initiative bremste.
Zusätzlich trug die außenpolitische Ausrichtung Syriens zur Konsolidierung der Assad-Herrschaft bei. Strategische Allianzen mit der Sowjetunion sicherten wirtschaftliche und militärische Unterstützung, während Rivalitäten mit Israel und westlichen Mächten die Legitimität des Regimes im Inland stärkten. Diese Konstellation schuf jedoch langfristige Abhängigkeiten, die Syrien anfällig machten.
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Bashar al-Assad: Reformen im Zeichen des Neoliberalismus
Mit dem Machtantritt von Bashar al-Assad im Jahr 2000 begann eine Phase marktorientierter Reformen, die als Versuch gewertet werden können, das syrische Wirtschaftssystem an globale Marktstrukturen anzupassen. Diese Liberalisierung führte zu begrenztem Wirtschaftswachstum, das jedoch primär einer kleinen urbanen Elite zugutekam. Die soziale Ungleichheit nahm zu, da ländliche Regionen weiterhin von grundlegenden Dienstleistungen ausgeschlossen blieben.
Die Förderung des Tourismus und die Einführung des Internets trugen zur Modernisierung bei, blieben jedoch oberflächlich in ihrer Wirkung auf die breite Bevölkerung. Die Arbeiterklasse, bereits durch staatliche Kontrolle ihrer Organisationen geschwächt, konnte ihre Interessen in diesem neuen wirtschaftlichen Umfeld kaum artikulieren. Diese Ungleichheiten trugen erheblich zur Eskalation sozialer Spannungen bei.
Bashars Reformen verschärften bestehende Probleme. Während Privatisierungen und Investitionsanreize die wirtschaftliche Kluft zwischen städtischen und ländlichen Gebieten vertieften, fehlten umfassende Maßnahmen zur sozialen Sicherung. Gleichzeitig führte die Lockerung staatlicher Kontrollen zu einer Konzentration von Ressourcen in den Händen weniger einflussreicher Familien und Geschäftsleute, was die öffentliche Unzufriedenheit weiter anheizte.
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Die Krise von 2011: Klassenkampf und geopolitische Dynamiken
Die Proteste von 2011 sind aus marxistischer Perspektive Ausdruck einer tiefen Klassenspaltung in der syrischen Gesellschaft. Die Forderungen nach Reformen entsprangen einer Frustration über die zunehmende Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten. Jedoch wurde die Krise rasch durch externe Akteure militarisiert, was die sozialen und ökonomischen Ursachen des Konflikts in den Hintergrund drängte.

Geopolitische Interessen
Syriens strategische Lage und Ressourcen, insbesondere seine Rolle im globalen Energiemarkt, machten das Land zum Schauplatz konkurrierender Mächte. Länder wie die USA, Russland und regionale Akteure wie die Türkei und der Iran verfolgten divergierende Interessen, oft auf Kosten der syrischen Bevölkerung. Die Instrumentalisierung radikaler Gruppen durch externe Mächte diente der Destabilisierung des Regimes und förderte die Fragmentierung des Landes.
Zudem wurde die Krise durch historische Feindseligkeiten und Ressourcenkämpfe verschärft. Der Kampf um die Kontrolle von Wasserquellen, Energiepipelines und strategischen Handelswegen verstärkte die Spannungen innerhalb und außerhalb Syriens. Dies verdeutlicht die tief verwurzelten geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen im syrischen Konflikt.
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Religion und Ideologie als politisches Werkzeug
Religion spielte eine zentrale Rolle in der Mobilisierung politischer Loyalitäten, wurde jedoch oft genutzt, um die zugrunde liegenden Klassenkonflikte zu verschleiern. Der offiziell säkulare Ansatz der Baath-Partei war ein Versuch, nationale Einheit zu fördern, stieß jedoch an seine Grenzen, da ökonomische Ungleichheiten die Hauptquelle von Spannungen blieben.
Minderheiten wurden durch Zugeständnisse an die Regierung gebunden, während die sunnitische Mehrheit häufig marginalisiert wurde. Diese Dynamik wurde durch die zunehmende Internationalisierung des Konflikts weiter verschärft, wodurch Religion zu einem Hebel geopolitischer Einflussnahme wurde. Die Polarisierung entlang religiöser Linien verdeutlichte, wie ideologische Narrative genutzt wurden, um politische Kontrolle zu festigen und gleichzeitig die Fragmentierung der Gesellschaft zu fördern.
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Perspektiven für eine marxistische Transformation
Die Zukunft Syriens erfordert eine radikale Neuausrichtung der politischen und ökonomischen Strukturen. Eine echte Lösung des Konflikts muss die zugrunde liegenden Klassenverhältnisse und die Verteilung der Ressourcen adressieren. Die Stärkung unabhängiger Gewerkschaften, die Schaffung von Kooperativen und eine umfassende Bodenreform könnten Schritte in Richtung einer gerechteren Gesellschaft sein.

Bildung und Nachhaltigkeit
Investitionen in ein inklusives Bildungssystem könnten langfristig dazu beitragen, sozioökonomische Ungleichheiten abzubauen und eine politisch bewusste Bevölkerung zu fördern. Ebenso wäre die Förderung nachhaltiger Landwirtschaft und Infrastrukturprojekte ein entscheidender Faktor, um ländliche Gebiete stärker zu integrieren.
Dieser Beitrag soll dazu beitragen, die komplexen sozialen, ökonomischen und politischen Dynamiken des syrischen Konflikts zu beleuchten. Die Geschichte Syriens zeigt, dass eine nachhaltige Lösung nur durch die Überwindung tiefer Ungleichheiten und die Förderung einer inklusiven, demokratischen Ordnung möglich ist. Zugleich bleibt der syrische Konflikt ein Lehrstück für die Verflechtung von Klassenkämpfen und geopolitischen Interessen, das weit über die Grenzen des Landes hinausreicht.
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