Deutschlands koloniales Erbe

Deutschlands koloniales Erbe:
Eine unbewältigte Vergangenheit und
die Verantwortung der Gegenwart
Die deutsche Kolonialgeschichte ist eine der am wenigsten aufgearbeiteten Episoden der deutschen Vergangenheit. Während sich die Auseinandersetzung mit dem Faschismus als zentrale erinnerungspolitische Aufgabe etabliert hat, fristet die Kolonialgeschichte weiterhin ein Schattendasein. Dies zeigt sich beispielsweise in der öffentlichen Gedenkkultur: Während es zahlreiche Denkmäler, Museen und Bildungsprogramme gibt, die sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus befassen, ist die koloniale Vergangenheit oft nur in kleineren Initiativen oder speziellen Ausstellungen thematisiert. Erst in jüngster Zeit rückt das Thema stärker in den Fokus, etwa durch die Debatte um die Rückgabe von kolonialer Raubkunst oder die Umbenennung von Straßen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. Dabei sind die Auswirkungen des deutschen Kolonialismus bis heute spürbar – sowohl in Deutschland als auch in den ehemaligen Kolonien. Die wirtschaftlichen und politischen Strukturen in Afrika, Asien und der Pazifikregion sind noch immer von den damaligen kolonialen Eingriffen geprägt. Diese Geschichte ist nicht nur ein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit, sondern reicht bis in die Gegenwart und beeinflusst das globale Machtgefüge.
Die Berliner Kongo-Konferenz und ihre Folgen
Vor 140 Jahren, 1884/85, fand in Berlin die sogenannte Kongo-Konferenz statt. Unter der Leitung von Reichskanzler Otto von Bismarck wurden dort die kolonialen Ansprüche europäischer Mächte auf den afrikanischen Kontinent vertraglich festgelegt. Deutschland sicherte sich Gebiete in West-, Ost- und Südwestafrika, darunter Deutsch-Ostafrika (heutiges Tansania, Ruanda und Burundi), Deutsch-Südwestafrika (Namibia), Togo und Kamerun. Diese Konferenz gilt als eines der folgenschwersten Ereignisse für Afrika, da sie die großflächige Aufteilung des Kontinents legitimierte, ohne die Interessen der afrikanischen Bevölkerung zu berücksichtigen.
Innerhalb weniger Jahre kam es in den deutschen Kolonien zu brutalen Unterdrückungsmaßnahmen. Besonders berüchtigt ist der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908. Nach einem Aufstand gegen die koloniale Unterdrückung ließ der deutsche General Lothar von Trotha die Bevölkerung in die Wüste treiben, wo tausende Männer, Frauen und Kinder verdursteten. In den Konzentrationslagern, die errichtet wurden, starben weitere Tausende an Hunger, Krankheiten und Zwangsarbeit. Dies gilt als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Auch in anderen Gebieten kam es zu brutalen Repressionen. In Deutsch-Ostafrika führte der Maji-Maji-Aufstand (1905–1907) zu einem rücksichtslosen Feldzug der Kolonialtruppen, der mit der systematischen Zerstörung von Dörfern und landwirtschaftlichen Flächen einherging. Die Folge war eine Hungersnot, der Zehntausende Menschen zum Opfer fielen. Ähnliches geschah in Togo und Kamerun, wo die Bevölkerung mit Zwangsarbeit und schweren Strafen für Widerstand unterdrückt wurde.
Vergessen, verdrängt, verleugnet
Trotz der grausamen Vergangenheit blieb die koloniale Verantwortung Deutschlands nach 1945 weitgehend unbeachtet. In der Bundesrepublik dominierte lange der Mythos, dass Deutschland keine Kolonialmacht im klassischen Sinne gewesen sei und die Kolonialzeit nur eine kurze Episode ohne langfristige Folgen darstellte. Diese Darstellung diente als bewusste Verdrängung der historischen Realität. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden koloniale Verbrechen langsam anerkannt, doch eine systematische Aufarbeitung fehlt weiterhin.
Anders war der Umgang in der DDR. Dort wurde aktiv antikoloniale Solidarität praktiziert, insbesondere mit afrikanischen Befreiungsbewegungen. Die DDR erkannte früh die Verbindung zwischen Imperialismus und Kapitalismus und stellte sich daher auf die Seite der unterdrückten Völker. Sie unterstützte unter anderem die Freiheitsbewegungen in Mosambik, Angola und Namibia mit Bildung, Infrastruktur und – wenn notwendig – militärischer Hilfe.
Institutionelle und wirtschaftliche Kontinuitäten
Viele deutsche Unternehmen, Museen und wissenschaftliche Einrichtungen profitieren noch heute von der kolonialen Vergangenheit. Zahlreiche Universitäten, etwa die Universität Hamburg, sind aus kolonialwissenschaftlichen Instituten hervorgegangen. Auch Museen wie das Humboldt Forum in Berlin beherbergen bis heute Kunstwerke und Kulturgüter, die während der Kolonialzeit geplündert wurden. Erst in jüngster Zeit gibt es erste Rückführungen, doch viele Experten kritisieren das langsame Tempo dieser Prozesse.
Auch wirtschaftlich zeigt sich der koloniale Einfluss weiterhin. Große deutsche Unternehmen wie Bayer, BASF oder die Deutsche Bank profitierten einst von kolonialen Strukturen und Handelsbeziehungen. Die heutige Wirtschaftsordnung zwischen Deutschland und den ehemaligen Kolonien spiegelt weiterhin eine neokoloniale Abhängigkeit wider. Ein Beispiel dafür ist die anhaltende Dominanz deutscher Unternehmen im Rohstoffsektor afrikanischer Länder. Viele afrikanische Staaten exportieren Rohstoffe wie Kobalt, Gold und seltene Erden nach Europa, während die Weiterverarbeitung und Wertschöpfung meist in Deutschland oder anderen westlichen Industrienationen erfolgt. Zudem beeinflussen internationale Handelsabkommen oft einseitig die wirtschaftliche Entwicklung in den ehemaligen Kolonien, indem sie den Zugang zu westlichen Märkten regulieren und lokale Industrialisierung behindern. Auch in der heutigen Entwicklungshilfe zeigt sich ein paternalistischer Ansatz, der die Abhängigkeit vieler Länder verfestigt.
Forderungen nach Aufarbeitung
In den letzten Jahren sind Forderungen nach einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte lauter geworden. Zahlreiche Initiativen setzen sich für die Rückgabe von Raubkunst, die Umbenennung kolonial belasteter Straßennamen und für offizielle Entschädigungszahlungen ein. Doch all dies geschieht langsam und oft widerwillig. Während Frankreich und Belgien sich zunehmend ihrer Verantwortung stellen, bleibt Deutschland zögerlich. Frankreich hat beispielsweise 2021 die Rückgabe zahlreicher geraubter Kunstwerke an Benin und Senegal eingeleitet, während Belgien ein umfassendes Programm zur Aufarbeitung seiner Kolonialverbrechen im Kongo gestartet hat. In Deutschland hingegen sind solche Maßnahmen noch zögerlich und oft von langwierigen politischen Debatten begleitet. Erst 2021 erkannte die Bundesregierung den Genozid an den Herero und Nama offiziell an, lehnte jedoch direkte Entschädigungszahlungen ab.
Auch das Thema der Vertragsarbeiter in der DDR und deren Behandlung nach der Wiedervereinigung zeigt eine koloniale Kontinuität. Viele ehemalige Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam, die in der DDR arbeiteten, wurden nach 1990 ohne soziale Absicherung zurückgeschickt oder verloren ihren rechtlichen Status in Deutschland. Ihr Beitrag zur deutschen Wirtschaft bleibt bis heute ungewürdigt.
Ein Blick nach vorne: Notwendige Maßnahmen zur Aufarbeitung
Die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit ist keine rein historische Frage, sondern eine politische Notwendigkeit. Es geht um Gerechtigkeit für die Nachkommen der kolonisierten Völker, um die Anerkennung des Unrechts und um eine Abkehr von neokolonialen Strukturen. Die Bundesrepublik hat die Chance, hier eine Vorreiterrolle einzunehmen – doch dafür müsste sie sich ihrer Geschichte endlich stellen.
Ein selbstkritischer Umgang mit der eigenen Vergangenheit ist nicht nur eine Frage der Erinnerung, sondern der Verantwortung. Dies erfordert politische Maßnahmen wie eine institutionelle Förderung postkolonialer Forschung, eine verpflichtende Thematisierung des deutschen Kolonialismus in Schul- und Universitätslehrplänen sowie finanzielle Entschädigungen für die Nachfahren der Opfer kolonialer Gewalt. Ebenso notwendig ist eine gerechte Handelspolitik, die die wirtschaftliche Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien stärkt und faire Partnerschaften ermöglicht. Ohne eine ehrliche Aufarbeitung bleibt Deutschlands koloniales Erbe eine offene Wunde, deren Heilung überfällig ist.
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