52 Jahre nach dem faschistischen Putsch in Chile
Von Frei zu Allende
Die politische und soziale Krise Chiles hatte sich in den 1960er‑Jahren zugespitzt. Unter Präsident Eduardo Frei Montalva („Revolution in Freiheit“) wurden erste Reformschritte wie eine moderat beschleunigte Landreform eingeleitet, aber die tiefen Klassenwidersprüche blieben ungelöst. Millionen Arbeiter und Bauern forderten höhere Löhne, Zugang zu Boden und Kontrolle über den Reichtum des Landes, vor allem über das Kupfer. 1970 gewann Salvador Allende an der Spitze der Unidad Popular die Wahl mit einem Programm demokratischer Erneuerung, Souveränität über natürliche Ressourcen und sozialer Gerechtigkeit.
Programm der Unidad Popular
Die Regierung setzte in kurzer Zeit zentrale Projekte um: Verstaatlichung des Kupfers, Ausbau öffentlicher Betriebe, Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel, kräftige Lohnerhöhungen für Arbeiter und Angestellte, Beschleunigung der Landreform, Alphabetisierung und Gesundheitsprogramme für die Mehrheit. Die Maßnahme, „Lohn und Brot zuerst“, erhöhte die Kaufkraft in den unteren Schichten, während Oligarchie und ausländisches Kapital massive Verluste befürchteten. Die Reaktion der alten Eliten fiel entsprechend hart aus: Kapitalflucht, Sabotage und ein Medienkrieg gegen die Regierung.
Rolle der USA und wirtschaftliche Interessen
Die USA spielten eine zentrale Rolle beim Sturz der demokratisch gewählten Regierung Salvador Allendes. Schon vor seiner Wahl hatte die CIA Millionen Dollar investiert, um konservative Kräfte und oppositionelle Medien zu stärken. Zwischen 1970 und 1973 flossen weitere Gelder in großem Umfang an Unternehmerverbände, rechte Parteien und Sabotagestrukturen. Präsident Nixon befahl persönlich, die chilenische Wirtschaft „zum Schreien“ zu bringen, um Unzufriedenheit im Volk zu schüren. Kredite wurden zurückgehalten, internationale Märkte verschlossen, und Konzerne wie ITT, Kennecott und Anaconda betrieben massive Lobbyarbeit gegen Allendes Politik. Unter dem Decknamen Project FUBELT koordinierte Washington Streiks, die Finanzierung terroristischer Gruppen und die Vorbereitung der Militärs. Henry Kissinger erklärte offen, ein „erfolgreiches sozialistisches Chile“ wäre gefährlicher als eine bewaffnete Revolution.
Doch die Einmischung beschränkte sich nicht auf ökonomische Sabotage. Es wurden gezielt Kontakte zu hohen Offizieren aufgebaut, um deren Loyalität gegenüber Allende zu untergraben. Militärattachés, Geheimdienstler und US‑Diplomaten bereiteten den Boden für die spätere Junta. Diese enge Verzahnung von wirtschaftlichen Interessen und geopolitischen Strategien zeigt, dass es nicht um Demokratie ging, sondern um die Verteidigung imperialer Vorherrschaft und Konzernprofite.
Medienkrieg und El Mercurio
Ein strategisches Schlachtfeld war die öffentliche Meinung. Große Blätter wie El Mercurio führten eine tägliche Kampagne gegen die Regierung, vermischten Gerüchte, Halbwahrheiten und offene Fälschungen. Streiks und Lieferengpässe wurden als „Beweis“ der Unfähigkeit der Regierung dargestellt, Sabotageakte verschwanden hinter der Rhetorik vom „Chaos“. Finanziert und kanalisiert wurde dies über ein dichtes Netzwerk aus Unternehmerverbänden, Stiftungen und Geheimdienstkanälen.
Chile im Kalten Krieg
Chile wurde im Kalten Krieg zum Prüfstein für die Möglichkeiten demokratischer Transformation. Zum ersten Mal war in Lateinamerika ein Sozialist nicht durch bewaffneten Kampf, sondern durch Wahlen an die Macht gekommen. Für Washington war das eine geopolitische Katastrophe, weil es zeigte, dass soziale Befreiung auch auf friedlichem Wege errungen werden kann. Die Furcht vor „Ansteckungseffekten“ in Europa und Lateinamerika trieb die Eskalation voran. Auf der anderen Seite war Chile ein Hoffnungsträger für Millionen Menschen weltweit: Allendes Projekt verband Demokratie, Volkssouveränität und soziale Gerechtigkeit. Fidel Castro besuchte 1971 das Land; auch aus Osteuropa und der Dritten Welt kamen Solidarität und Unterstützung.
Militärische Vorbereitung: Doktrin und Ausbildung
Die chilenischen Streitkräfte waren seit den 1950er‑Jahren eng an die US‑amerikanische „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ gebunden. Offiziere wurden an US‑Akademien geschult; Antikommunismus und „innerer Feind“ galten als Leitbilder. Diese Ideologie war der politische Kitt, der den späteren Staatsstreich rechtfertigte. Parallel bauten rechtsradikale Gruppen wie Patria y Libertad paramilitärische Strukturen auf.
Vorbereitung und Durchführung des Putsches
Die Jahre 1972 und 1973 waren von permanenter Destabilisierung geprägt. Unternehmerstreiks legten die Wirtschaft lahm, Lastwagenunternehmer blockierten das Land, während faschistische Gruppen Anschläge und Attentate verübten. Das Parlament, dominiert von der Opposition, beschuldigte Allende des Verfassungsbruchs und forderte die Armee indirekt zum Eingreifen auf. Am 29. Juni 1973 versuchte ein Teil der Militärs bereits im „Tanquetazo“ einen Putsch, scheiterte aber noch am Widerstand loyaler Truppen. Doch nur Wochen später formierten sich die Generäle erneut.
Pinochet, erst kurz zuvor von Allende zum Oberbefehlshaber befördert, stellte sich gegen die Regierung. Am Morgen des 11. September 1973 besetzten Marine und Armee strategische Punkte. Gegen 9:30 Uhr wurde der Präsidentenpalast La Moneda umstellt. Allende weigerte sich, zurückzutreten, und sprach noch einmal über Radio zum Volk. Seine letzten Worte riefen zur Hoffnung und zum Glauben an die Zukunft auf. Um 11 Uhr begannen Kampfjets mit der Bombardierung des Palastes. Rauch und Explosionen erschütterten das Zentrum von Santiago. Am frühen Nachmittag stürmten Truppen das Gebäude. Salvador Allende fiel im Kampf um die Verteidigung der Demokratie – er nahm sich das Leben, um nicht in die Hände der Faschisten zu geraten.
Pinochet und der neoliberale Umbau
Mit dem Militärputsch begann eine Phase, die Chile in ein neoliberales Versuchsfeld verwandelte. Unter dem Schutz der Militärjunta und mit Unterstützung US‑amerikanischer Berater setzten die „Chicago Boys“ radikale Marktgesetze durch. Öffentliche Betriebe wurden verkauft, das Bildungs‑ und Gesundheitssystem privatisiert, Arbeitsrechte zerschlagen. Subventionen für Lebensmittel, Transport und Grundversorgung wurden gestrichen, wodurch die Preise explodierten. Während die Inflation zeitweise eingedämmt wurde, stieg die Arbeitslosigkeit massiv an. Millionen verloren ihre Existenzgrundlage.
Der Reichtum konzentrierte sich in den Händen weniger Großunternehmer, während die Mehrheit der Bevölkerung verarmte. Pinochet inszenierte Chile als „Erfolgsmodell“, gefeiert von Thatcher und Reagan. Doch für das Volk war es ein Experiment der sozialen Zerstörung – ein Modell, das nur mit Staatsterror aufrechterhalten werden konnte. Der Umbau führte zu einer Verlagerung der Macht in Richtung einer oligarchischen Elite. Gleichzeitig wurde die Gesellschaft brutal entpolitisiert: Gewerkschaften verloren ihre Basis, linke Parteien waren verboten, jede Regung des Widerstands wurde im Keim erstickt. 1981 wurde das Rentensystem privatisiert (AFP‑Modelle); die Gesundheit wurde in private Kassen überführt; Bildung wurde zur Ware.
Terror gegen die Linke
Unmittelbar nach dem Putsch begann ein beispielloser Staatsterror. Tausende wurden ins Nationalstadion gesperrt, gefoltert und erschossen. Berüchtigte Folterzentren wie Villa Grimaldi oder Colonia Dignidad wurden zu Orten des Grauens. Mehr als 3.000 Oppositionelle wurden ermordet, über 40.000 gefoltert. Gewerkschaften wurden zerschlagen, Studentenverbände verboten, linke Literatur verbrannt. Víctor Jara, der Sänger der Befreiungslieder, wurde grausam ermordet und zum Symbol des Widerstands.
Der Geheimdienst DINA arbeitete eng mit ausländischen Militärdiktaturen in Argentinien, Uruguay, Brasilien, Paraguay und Bolivien im Rahmen der Operation Condor zusammen. Oppositionelle wurden über die Grenzen hinweg entführt und ermordet – selbst in Washington fiel der frühere Außenminister Orlando Letelier 1976 einem Bombenattentat zum Opfer. Der Terror reichte weit über Chile hinaus und zielte darauf, die gesamte Linke Lateinamerikas zu lähmen. Auch Exilgemeinschaften in Europa und Nordamerika standen unter Beobachtung. Viele Geflüchtete berichteten, dass sie bis in die Bundesrepublik oder nach Schweden verfolgt und bedroht wurden.
Deutschland und die Colonia Dignidad
Eine besondere Rolle spielte die von Deutschen gegründete Colonia Dignidad in Südchile. Das abgeschottete Areal diente der DINA als Folter‑ und Vernetzungszentrum. Aus Chile Geflüchtete berichteten über Verschleppungen, medizinische Experimente und Kooperation mit Militärs. Jahrzehntelang blieb das Netzwerk auch wegen politischer Rückendeckung aus der Bundesrepublik unangetastet. Die juristische Aufarbeitung zog sich bis weit in die 2000er‑ und 2010er‑Jahre.
Wirtschaftskrisen der 1980er‑Jahre
1982 traf eine schwere Finanz‑ und Schuldenkrise Chile: Banken kollabierten, das BIP schrumpfte, die Arbeitslosigkeit stieg in zweistellige Höhen. Der Staat musste trotz neoliberaler Dogmatik mit Milliarden einspringen und die Banken retten – Gewinne wurden privatisiert, Verluste sozialisiert. Der angebliche „Erfolg“ des Modells entpuppte sich als ideologische Fassade, die nur mit Repression und Schuldenpolitik aufrechterhalten werden konnte.
Übergang, Plebiszit und begrenzte Demokratie
1980 oktroyierte die Junta eine autoritäre Verfassung, die Militärprivilegien, ein ernanntes Oberhaus und Notstandsrechte festschrieb. 1988 verlor Pinochet das Plebiszit; 1990 folgte der institutionelle Übergang. Doch die Verfassung blieb weitgehend in Kraft, die ökonomischen Strukturen ebenso. Die nachfolgenden Regierungen liberalen Zuschnitts verwalteten das Erbe, anstatt es zu brechen. Erst der Massenaufstand von 2019 stellte das Modell grundsätzlich infrage; mehrere Anläufe, eine neue Verfassung zu schaffen, scheiterten bisher – Ausdruck der anhaltenden Macht alter Eliten.
Internationale Reaktionen
Die internationale Reaktion zeigte die Widersprüchlichkeit der Weltordnung. Während Millionen Menschen weltweit gegen die Diktatur protestierten und Chile‑Komitees gründeten, erkannten die USA und Verbündete das Regime umgehend an. Washington gewährte Hilfen in dreistelliger Millionenhöhe, deutsche Konservative lobten den „Ordnungssinn“ Pinochets, und Großbritannien pflegte später eine enge Partnerschaft. Gleichzeitig waren Schweden, Mexiko, die DDR und andere Staaten wichtige Zufluchtsorte für Exilierte.
In Europa, Lateinamerika und Nordamerika entstand eine starke Solidaritätsbewegung, die durch Kultur, Musik und politische Arbeit das Thema weltweit präsent hielt. Gruppen wie Inti‑Illimani und Quilapayún machten im Exil die Schrecken der Diktatur sichtbar. Amnesty International dokumentierte Menschenrechtsverbrechen, die UNO verurteilte die Junta – doch harte Sanktionen blieben aus. Die Kluft zwischen Regierungen, die realpolitisch mit Pinochet kooperierten, und Bevölkerungen, die in Solidarität mit Chile auf die Straße gingen, offenbarte den Widerspruch der westlichen Demokratien.
Langfristige Folgen
Die Militärdiktatur dauerte bis 1990. In dieser Zeit wurden zehntausende Menschen verhaftet, gefoltert, hingerichtet oder ins Exil getrieben (jungewelt.de). Mindestens 3.300 Menschen wurden getötet und rund 1.200 gelten bis heute als verschwunden (jornada.com.mx). Chile wurde zum „Laboratorium“ einer radikal neoliberalen Wirtschaftspolitik der sogenannten „Chicago Boys“ (jungewelt.de); 38 % der Bevölkerung lebten in den 1980er‑Jahren unter der Armutsgrenze (jornada.com.mx). Die Diktatur zerstörte nicht nur tausende Leben, sondern auch die demokratische Kultur. Das Modell der Privatisierung von Renten, Gesundheit und Bildung verfestigte Armut, Prekarität und Ungleichheit über Generationen.
Heutiges Gedenken und Kämpfe um Wahrheit
52 Jahre später bleibt das Gedenken an den Putsch ein zentrales Thema der chilenischen Gesellschaft und Politik. Zum Jahrestag am 11. September 2025 organisierte die Regierung von Gabriel Boric im Patio de los Naranjos des Regierungspalasts eine offizielle Zeremonie. Dabei erhielten rund 150 Familien von Verschwundenen erstmals Akten und Dokumente ihrer Angehörigen (prensa‑latina.cu). Das nationale Suchprogramm veröffentlichte eine Liste von 1.469 Verschwundenen und eine georeferenzierte Karte ihrer letzten bekannten Wege (laverdadnoticias.com).
Wie jedes Jahr fand in Santiago die „Romería“ vom Zentrum zum Cementerio General statt. An diesem Marsch nehmen Überlebende, Angehörige von Verschwundenen, Gewerkschaften und Studentenverbände teil. Sie tragen Fotos der Opfer und fordern Wahrheit und Gerechtigkeit (laprensaaustral.cl). Am 7. September 2025 kam es am Rand der Romería zu Zusammenstößen zwischen Vermummten und der Polizei. Carabineros berichteten von 57 Festnahmen, darunter elf Jugendliche, wegen Herstellung und Wurf von Brand‑ oder Feuerwerkskörpern (laprensaaustral.cl). Die meisten Teilnehmer distanzierten sich von diesen Ausschreitungen.
Lehren für heute: Souveränität, Frieden, soziale Rechte
Der 11. September 1973 mahnt: Souveränität über natürliche Ressourcen, soziale Rechte und Frieden sind untrennbar. Wo fremde Interessen den Kurs diktieren, werden Demokratie und Menschenwürde ausgehöhlt. Eine Politik der Entspannung, des Respekts nationaler Selbstbestimmung und der sozialen Teilhabe ist die Antwort auf das Erbe des Putsches. Gegen Kriegslogik und neoliberale Schockprogramme braucht es starke, geeinte Kräfte des Friedens und der sozialen Bewegung.
Schluss
Der 11. September 1973 bleibt ein Symbol für Verrat, Gewalt und Unterdrückung – aber auch für unbeugsamen Widerstand. Allendes letzte Worte „Die Geschichte gehört uns“ hallen bis heute nach. Sie erinnern daran, dass der Kampf um Befreiung nicht ausgelöscht werden kann.
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