Allmählich zeichnet sich ein klareres Bild der Faktoren ab, die zum Zusammenbruch in Syrien führten. Zwar liegt die Vermutung nahe, dass auch Baschar al-Assad durch bestimmte Fehlentscheidungen zu dieser Entwicklung beigetragen hat, doch scheint der eigentliche Kern des Problems an anderer Stelle zu liegen.
Bertolt Brecht fasste diese Dynamik in einem Gedicht sinngemäß zusammen: Die Schwächsten kämpfen gar nicht, etwas Stärkere kämpfen vielleicht eine kurze Zeit, noch Stärkere kämpfen über Jahre, doch nur die Stärksten kämpfen ein Leben lang. Diese seien unersetzlich. Diese Perspektive verdeutlicht, dass selbst anhaltender Widerstand nicht unbedingt vor Scheitern oder Fehlern schützt.
Die Übernahme Syriens durch von westlichen Geldgebern unterstützte islamistische Gruppen wird voraussichtlich nicht nur für die syrische Bevölkerung, sondern für die gesamte Region weitreichende negative Folgen haben. Dass israelische Panzer inzwischen bis auf etwa 20 Kilometer an Damaskus herangerückt sind, unterstreicht die Dramatik der Lage. Viele Analysten gehen zudem davon aus, dass die sogenannte „Achse des Widerstands“ entscheidend geschwächt ist. Dies betrifft unter anderem die Versorgungslinien der libanesischen Hisbollah, die bislang über syrisches Territorium verliefen.
Der israelische Ministerpräsident Netanyahu kann so einen bedeutenden Erfolg vorweisen, der seiner Politik zusätzliche Legitimation zu verleihen scheint. Anstelle zuvor koordinierter Widerstandsaktionen, die zumindest vereinzelt dem Einfluss der USA im Nahen Osten Grenzen aufzeigten, ist nun für längere Zeit eher mit schwächeren, isolierten Gegenmaßnahmen zu rechnen. Diese Entwicklung könnte sogar dazu führen, dass die lange überwunden geglaubten konfessionellen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten erneut aufflammen – Spannungen, die in der Vergangenheit unter anderem von den USA geschürt wurden.
Verschiedene Quellen berichten, Assad habe nach dem Ende der aktiven Kampfhandlungen mehrere Unterstützungsangebote ausgeschlagen: ein russisches Angebot zur Modernisierung der Armee, chinesische Kredite für den Wiederaufbau sowie Warnungen aus Teheran und Moskau vor einer größeren Eskalation in Idlib. Darüber hinaus war es ihm offenbar nicht möglich, die Korruption im Land einzudämmen. Infolge anhaltender Sanktionen, wachsender Armut und Hungersnot nahm diese ein enormes Ausmaß an. Während Soldaten der syrischen Armee Berichten zufolge nur etwa sieben US-Dollar pro Monat erhielten, boten die Aufständischen 400 US-Dollar für die Aufgabe der Waffen. Dieser Mechanismus, in dem geringer staatlicher Lohn zur existenziellen Not und damit zur Ausweitung von Korruption führt, ist in vielen Ländern des globalen Südens zu beobachten.
Mit Blick auf diese Entwicklungen stellt sich die Frage, inwieweit Assad persönlich hierfür zur Verantwortung gezogen werden kann. Sollte es zutreffen, dass er chinesische Wiederaufbauhilfen ausschlug, hat er möglicherweise selbst eine Gelegenheit zur wirtschaftlichen Stabilisierung nach 2019 ungenutzt gelassen. Auch seine Weigerung, mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan zu verhandeln, dürfte sich als politischer Fehler erweisen. Dies kulminierte schließlich darin, dem BRICS-Treffen in Kasan fernzubleiben.
Gleichwohl behalten Brechts Worte ihre Gültigkeit: Die Unterscheidung zwischen Schwachen und Starken liegt bereits im Entschluss, überhaupt zu kämpfen. Assad hat jahrelang unter widrigsten Umständen Widerstand geleistet – kann man erwarten, dass ein Mensch unbegrenzt zu den Allerhärtesten gehört? Ist es gerecht, ihm vorzuwerfen, nicht in jeder Hinsicht zu den Stärksten zu zählen, solange man selbst keinen ähnlichen Beweis erbringen muss?
Es ist denkbar, dass psychologische Faktoren dazu führten, wichtige Angebote auszuschlagen. Assad übernahm die Präsidentschaft nicht aus freiem Willen, sondern weil sein dafür vorgesehener älterer Bruder verstarb. Er gab ein ruhiges Leben als Augenarzt in London auf und sah sich plötzlich mit geopolitischen Machtkämpfen konfrontiert. Die Sehnsucht nach einem friedlicheren Dasein mag stets latent vorhanden gewesen sein und dürfte sich angesichts der schweren Erkrankung seiner Frau in den letzten Jahren noch verstärkt haben.
Inmitten einer erzwungenen Auseinandersetzung klammern sich Menschen oft an einen bestimmten Wert oder Gedankengang, um sich aufrechtzuerhalten. Für Assad könnte dies vor 2019 vor allem der Stolz gewesen sein. Ironischerweise wandelte sich diese Kraftquelle in der entscheidenden Phase – als es darum ging, den Wiederaufbau voranzutreiben und aus militärischen Erfolgen eine nachhaltige Zukunftsperspektive zu entwickeln – in eine Schwäche.
Dieses Phänomen spiegelt sich in zahlreichen Mythen wider, in denen große Helden verwundbare Stellen besitzen. In der Realität äußert sich diese Verletzlichkeit nicht in Form mythischer Symbole, sondern zeigt sich in charakterlichen Eigenschaften, deren Wirkung vom jeweiligen Umfeld abhängt. Ebenso können vormals unauffällige Menschen in einem einzigen entscheidenden Moment das Richtige tun. Es steht niemandem zu, einem anderen Menschen vorzuwerfen, menschlich zu sein. So unverzichtbar jene sind, die ihr Leben lang kämpfen, so selten sind sie auch.